Cagot
verschreckten kleinen Kind mitgehörter elterlicher Streit im Obergeschoss eines Hauses.
Das Helium und der Wasserstoff.
Schaudernd wandte sich Simon dem Buch am Ende des Tischs zu. Dem Gästebuch. Ein riesiger ledergebundener Wälzer, mindestens tausend Seiten dick, mit Einträgen, die mehrere Jahrzehnte zurückreichten. Er überflog die jüngsten Einträge, zumindest die auf Englisch verfassten.
»Die Geräusche nachts: unerträglich.«
»Ein Ausdruck purer Genialität.«
»Der schönste Bau der Welt. Und zugleich der hässlichste.«
»Hier habe ich innere Ruhe gefunden. Merci.«
Blitze zuckten durch das dunkelnde Tal und ließen die grauen Wände und die orangefarbenen Vorhänge immer wieder kurz aufleuchten. Mächtige Regenschwaden peitschten über das Tal und über das kleine Dorf Eveux-sur-l’Arbresle hinweg.
Eveux und l’Arbresle?
Eveux… sur l’Arbresle.
In ihm regte sich etwas. Inmitten der sirrenden Sorge um Tim. Er merkte, dass er etwas übersehen hatte. Das Sternchen auf Davids Karte, das Davids Vater, Eduardo Martinez, so gewissenhaft eingezeichnet hatte. Das Kloster mochte eine Sackgasse sein, aber Eduardo hatte es für wichtig gehalten. War er vielleicht…?
Hastig blätterte Simon, im Kopf nachrechnend, im Gästebuch zurück. Wann hatte sich der Unfall ereignet, bei dem das Ehepaar Martinez ums Leben gekommen war? Er kramte das Datum aus seinem Gedächtnis hervor. Dann suchte er die entsprechende Seite im Gästebuch. Fünfzehn Jahre zuvor.
Schließlich hatte er sie. Er ging die Namensliste durch. Menschen aus Frankreich, Amerika, Spanien, Deutschland … Dann eine Menge Leute nur aus Deutschland und Frankreich. Und dann…
Da?
Sein Herzschlag konnte es mit dem mächtigen Dröhnen des Donners in den Tälern des Beaujolais aufnehmen.
Sein Blick blieb an einem interessanten Kommentar eines Engländers hängen. Der Eintrag lautete:
»Suchen ist finden?«
Es folgten die persönlichen Daten des Pilgers. Stadt: Norwich. Land: England. Besuchsdatum: 17. August. Dann endlich der Name. Eduardo Martinez.
31
Sie brauchten drei Tage, um einen Flug nach Namibia zu bekommen. Als es so weit war, verließen sie unbemerkt das Hotel und fuhren zum Flughafen, um die Abendmaschine nach Frankfurt zu nehmen. Von dort ging der Nachtflug, der sie dreizehntausend Kilometer weit nach Süden brachte. Über den Äquator, über das gesamte Dunkel Afrikas - nach Namibia.
Sie blieben still und verschlossen, sogar untereinander. Selbst als sie endlich sicher an Bord der Maschine nach Afrika waren, sprachen sie kaum ein Wort, als bedürfte ihr Vorhaben, ihr Flug ins Ungewisse, keiner weiteren Kommentierung.
Während ihr Flugzeug die unermessliche lichtlose Weite der Sahara überquerte, fragte sich David, was sie in Afrika erwartete - würden sie dort Angus Nairn und Eloise treffen? Und wenn den beiden etwas zugestoßen war? Wenn sie sie nicht finden konnten? Was dann? Sollten sie sich dann einfach an einem Strand verstecken? Für immer? Natürlich nur, falls sie die Infektion überlebten, die sie sich vielleicht zugezogen hatten. Von den Leichen im Keller.
Er versuchte, seine Ängste zu verdrängen. Egal, was sie in Namibia erwartete, sie mussten der Sache auf den Grund gehen - endlich ins Herz dieses Geheimnisses vordringen. Wenn sie schon so unerbittlich gejagt wurden, war es vielleicht das Beste, wenn sie versuchten, ihren Verfolgern zuvorzukommen und das Rätsel als Erste zu lösen. Ein weiterer Grund, dieses Risiko einzugehen und nach Namibia zu fliegen.
Amy neben ihm döste vor sich hin. David griff nach dem Bordmagazin und schlug darin die Seiten mit den Weltkarten auf. Namibia war ein riesiges Land. Ein großes orangefarbenes Rechteck. Er studierte die Namen der wenigen eingezeichneten Städte.
Windhuk. Uis. Lüderitz. Aus. Sehr deutsch. Relikte der deutsehen Kolonialherrschaft. Aber nur so wenige Städte und sonst bloß ein riesiges verlassenes Nichts?
Amy schlief den größten Teil des zwölfstündigen Flugs. Aus purer Erschöpfung. David betrachtete liebevoll ihr Gesicht und breitete eine Decke über sie, damit sie nicht fror. Ihr Atem ging zunehmend langsamer, als sie in immer tieferen Schlaf sank.
Irgendwann fielen auch David die Augen zu, und er schlief ein. Als er aufwachte, brannte die Sonne heiß durch die Flugzeugfenster, und sie landeten auf einem Flughafen, wie er ihn noch nie gesehen hatte.
Er lag mitten in der Wüste. Sogar der Flughafen selbst war Wüste. Ein paar armselige
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