Cagot
Namibia.
Was konnte er tun, um ihnen zu helfen? Vielleicht nichts, vielleicht etwas, vielleicht das, was er gerade tat. In seinem Kopf herrschte ein Durcheinander aus Ratlosigkeit und Neugier.
Der letzte Abschnitt seiner Reise führte durch Weinberge und herbstlich gelbe Eichengehölze. Dann mündete die Straße in ein weites grünes Tal. An einem seiner Hänge lag das Kloster La Tourette.
»Wow!«, entfuhr es ihm.
Er hatte einige Stunden mit seinen Recherchen über den modernistischen Bau zugebracht und seinen Vater, der Architekt war, über Le Corbusier ausgequetscht, aber als er das Kloster jetzt tatsächlich vor sich sah, war es doch ziemlich gespenstisch.
Inmitten des üppigen Grüns stand dieses … Ding. Es sah aus wie die Ausgeburt eines mehrstöckigen Parkhauses, gepaart mit einer düsteren mittelalterlichen Burg. Der Bau war fast durchgehend grau. Die einzigen Farbtupfer waren die leuchtend roten und orangefarbenen Vorhänge hinter den großen Fenstern.
Als Simon das Auto langsam ausrollen ließ, wurden weitere ungewöhnliche Elemente des Baus erkennbar. Aus seiner Mitte ragte eine surreale Betonpyramide empor. Mehrere der grauen Korridore schienen vollkommen willkürlich abgewinkelt. Auf einer Seite ruhte das ganze Bauwerk auf einem grasbewachsenen Hang, auf der anderen auf staksigen, unregelmäßig angeordneten Betonpfeilern.
Simon parkte und sah sich nach dem Eingang um. Es handelte sich um eine Art Betonportal, das ins Innere des Gebäudes führte.
Mochte das Äußere auch wenig einladend sein, erfolgte Simons Aufnahme in Sainte-Marie de La Tourette unkompliziert, fast flapsig. Offensichtlich war man im Kloster an Besucher und Pilger gewöhnt, und ganz besonders an Architekturinteressierte. In einem Nebenzimmer, die Wände waren aus nacktem Beton, wurde Simon von einem Mönch in Jeans und einem grauen T-Shirt empfangen.
Simon konnte seine Nervosität nur mit Mühe unterdrücken, als er sich mit seiner Scheinidentität (Edgar Harrison, englischer Architekt) vorstellte, unter der er telefonisch ein Zimmer reserviert hatte. Angespannt hielt er im Gesicht des Mönchs nach Spuren von Neugier, Skepsis oder Argwohn Ausschau.
Doch der Mönch nickte nur.
»Monsieur Harrison. Un moment.«
Als der Mönch darauf Namen und Personenangaben in den Computer eingab, schaute sich Simon in dem Empfangszimmer um. Es hatte ganz und gar nichts Spektakuläres, ein stinknormales Büro, mit Akten und Papierkram, schnurlosen Telefonen und einem Faxgerät und mit einem großen Glasgehäuse, in dem die ordentlich mit kleinen Etiketten versehenen Schlüssel für die verschiedenen Räume des Klosters hingen. Le Refectoire, la Bibliotheque, la Cuisine.
Wenigstens gab es eine Bibliothek. Aber wenn ihr Inhalt wirklich so geheim war, warum hing der Schlüssel dann hier, mehr oder weniger für jedermann zugänglich?
Als der Mönch fertig war, stand er auf, öffnete ein anderes Gehäuse und nahm einen Schlüssel heraus. Dann begleitete er Simon nach oben, um ihm sein Zimmer zu zeigen, die Klosterzelle, in der er seine drei »Klausur«-Tage verbringen würde. Die Treppe war steil. Sie sprachen nicht. Sie erreichten den Gang im Obergeschoss.
Die langen, schmucklosen Betonkorridore, in denen sich Tür an Tür reihte, erinnerten Simon an ein Gefängnis.
Der Mönch händigte ihm seinen Schlüssel aus und überließ ihn sich selbst. Simon betrat die Zelle, warf seine Tasche auf das schmale Bett und schaute sich um - bestürzt. Der Raum hatte etwas unglaublich Bedrückendes: kaum breiter als ein Sarg, mit einer niedrigen, feuchten Betondecke. Er endete in einer Glastür mit rostiger Fassung. Und von allen Seiten ertönten stumpfsinnige Geräusche. Das Schlagen einer Wasserleitung. Ein Husten.
Dann ein Anruf auf seinem neuen Handy. Sofort stiegen schlimmste Befürchtungen in Simon auf. Er drückte die Gesprächstaste. Nur seine Frau hatte seine neue Nummer. Was war passiert?
Aber es war David.
»Simon … wo sind Sie? Ihre Frau hat mir Ihre neue Nummer gegeben.«
Simon blickte sich in der Zelle um. Die grauen Betonwände waren fleckig vor Feuchtigkeit. Um einen besseren Empfang zu bekommen, ging er auf den Gang hinaus.
»Ich bin in diesem Kloster.«
»Wo die Forschungsunterlagen gelagert sind?«
»Hoffe ich zumindest, David. Hoffe ich.«
Ein Mönch kam den Gang herunter. Das Holzkreuz, das von seinem Hals hing, stand in auffälligem Kontrast zu seinem Surfer-T-Shirt. Er lächelte Simon abwesend an. Umso beflissener
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