Cagot
Misstrauisch studierte David die Kirche, die das stumme Dorf beherrschte.
Sie schien leer; aber es war nicht auszuschließen, dass Miguel einen seiner Späher darin postiert hatte, um ihm ihre Ankunft umgehend zu melden.
Miguel. Die schrecklichen Erinnerungen an ihn versetzten David jedes Mal von neuem einen Stich. Dazu kam, dass Amy einmal gesagt hatte, er sehe Miguel ähnlich.
War das möglich? War es möglich, dass er und der Wolf… verwandt waren?
Zwei Cagots. Zwei kannibalische Cousins.
Er schauderte. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Als ob er in scheußlichen Wahrheiten ertränke, immer tiefer in die Jauchegrube der Realität hinabgezogen würde. Tiefer und tiefer, bis er keine Luft mehr bekam.
Ein Kackmensch.
Er blickte die triste graue Straße hinauf und hinunter und spürte eine neue Welle der Verzweiflung in sich aufsteigen.
»Hier ist nichts. Fehlanzeige. Hier gibt es keine Synagoge - wahrscheinlich wurde sie zerstört.«
Simon pflichtete ihm bedrückt bei. »So muss es wohl sein. Tja, Leute, jetzt können wir endgültig einpacken.«
Schwarze Abgaswolken speiend, zuckelte ein klappriger alter Skoda die Straße entlang. Amy begann, niedergeschlagen durch den Regen zu wandern und sich umzublicken.
Sogar Angus wirkte geknickt.
»Dann gehen wir eben was trinken. Wenn wir schon alle sterben müssen, dann genehmigen wir uns vorher wenigstens noch einen.«
Es war ein absurder Vorschlag, es war ein idiotischer Vorschlag, aber es war ein Vorschlag. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Miguel würde sie finden, so viel war klar. Wenn nicht heute, dann in den nächsten Tagen. Er würde sie aufspüren. Warum also sollten sie nicht vorher noch etwas trinken gehen?
Sie überquerten die von Regenpfützen übersäte Dorfstraße und zogen an der Türglocke des Wirtshauses.
Die Gaststube war fast genauso heruntergekommen wie die schäbige Fassade. Der karge Raum war mit einigen wenigen wackligen Tischen eingerichtet. In einer Ecke saß ein alter Bauer über seinem Essen. Die Getränkeauswahl beschränkte sich auf vier große Metallfässer mit Budvar und Staropramen.
Wenigstens gibt es anständiges Bier, dachte David. Gutes tschechisches Bier. Ein letztes Bier, das ihnen helfen würde, zu vergessen und sich ihrem Schicksal zu fügen. David war psychisch und körperlich am Ende, ausgelaugt und demoralisiert. Er hatte einfach nicht mehr die Kraft, noch länger wegzulaufen. Komme, was wolle, er konnte nicht mehr und hoffte nur noch, dass es schnell zu Ende ging. Er war zermürbt, sogar lebensmüde. Wenn er wirklich ein Cagot war, und vielleicht auch noch mit den schlimmsten Anlagen der Cagots geschlagen, dann war er nicht sicher, ob er überhaupt noch leben wollte.
Deshalb: trinken.
Der Wirt, ein älterer, ungepflegter Mann mit unrasierten Hängebacken, sprach ein paar Brocken Deutsch. Er brachte ihnen vier Gläser Bier. Simon zögerte zunächst, aber dann griff auch er nach einem Glas.
Sie saßen an einem Ecktisch. Nur Angus redete. Nur Angus hatte noch Energie. Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und hielt ihnen einen Vortrag über tschechisches Bier. »Ein gutes Pils sollte ganz leicht nach Meerrettich schmecken. Wusstet ihr das? Dafür ist dieses Bier ein gutes Beispiel. Tschechisches Bier ist einfach unschlagbar. So grauenhaft das Essen ist - sie ertränken einfach alles in Sahne -, vom Bierbrauen verstehen sie was. Sie haben hier sogar Frühstücksbiere, spezielle Biere zum Frühstück. Hah!«
Amy stand auf und ging zur Tür.
»Ich muss ein bisschen frische Luft schnappen.«
David ließ sie gehen. Er konnte verstehen, warum sie Abstand zu ihm brauchte, zu dem verfluchten Cagot. Wer wollte schon so jemandes Freundin sein? Als die Tür hinter ihr zufiel, wurde ihm bewusst, dass es so weit war: Jetzt war er endgültig und für immer allein. Alle hatten ihn verlassen, alle hatten sich von ihm abgewandt. Er war in der Wüste seines eigenen Lebens verloren. Wie diese einsamen Bäume an der Skelettküste, die von dem Tau lebten, der sich vom Meer auf sie niederschlug.
Sollte Miguel doch kommen und ihn umbringen, ein Cagot, der einen Cagot umbrachte, ein Bruder, der den Bruder erschlug. Es spielte keine Rolle mehr.
Inzwischen sprach Angus über den Holocaust. Er war inzwischen bei seinem zweiten oder dritten Glas Staropramen angelangt, und seine Ausführungen waren zunehmend von besoffen spintisierendem Nihilismus durchsetzt.
»Wisst ihr, was ich echt schlimm finde? Die Deutschen hatten
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