Cagot
über den Tisch. »Hier. Earl Grey. Ich habe auch Zitrone, wenn Sie möchten.«
Sie griffen nach den Tassen. Eloise sprach weiter. »Tut mir leid, das mit Flinte. Sie war von meinem Vater. Bevor … bevor das passiert ist.«
An dieser Stelle schaltete sich Amy ein. »Eloise, entschuldige bitte, aber darf ich vielleicht fragen … was genau passiert ist?«
Das Mädchen zuckte kaum merklich zusammen. »Vor ein Monat … meine Mutter und mein Vater wurden ermordet.«
»Um Gottes willen«, entfuhr es Amy.
»Das ist ja furchtbar«, sagte David entsetzt.
Das Mädchen sah ihn aus seinen dunkelbraunen Augen ganz direkt an.
»Nur deshalb habe ich aufgemacht. Wegen Ihre Geschichte. Sie ist sehr traurig. Ich weiß, wie es ist.«
»Wie wurden sie ermordet?«
»Erschossen.«
»Von wem?«
»Die Polizei hat niemand gefunden. Aber sie tut nichts.«
»Nichts?«
»Nein, nichts. Sie sind … arbeitslos. Chömage! Zwei Menschen ermordet, und sie finden niemand. Es ist incroyable.« Eloise nahm einen Schluck Tee. David war er noch zu heiß. Eloise schien es nichts auszumachen. »Sie wurden im Auto erschossen. Einfach so! Vielleicht, weil wir Cagots sind? Aber wir wissen nicht, warum. Verstehen Sie, warum ich Angst habe? Vor jedem, auch vor Polizei. Die Cagots werden alle getötet.«
Damit war sie beim Thema: die Cagots. David kam auf die Website zu sprechen, und das Mädchen verzog das Gesicht.
»Das war die Idee von mein Vater! Diese dumme Website! dernieredescagots dot fr. Ich habe ihm gesagt, es ist gefährlich, diese Website! Ich habe ihm gesagt, er lenkt Aufmerksamkeit auf sich.
Er und meine Mutter, sie meinten, wir Cagots sollen uns nicht länger schämen, es ist dumm, uns zu verstecken. Und weil wir vielleicht die letzten waren, wollte er, dass alle davon erfahren.« Ein Achselzucken. »Er meint, irgendjemand muss das Schicksal von Les Cagots festhalten! Und jetzt mussten meine Eltern deswegen vielleicht sterben. N’est ce pas? Seitdem habe ich die Flinte. Mein Vater hat damit Tauben gejagt. Ich habe sie immer da. Als Nächstes kommen sie vielleicht, uns zu töten. Wir sind als Einzige noch übrig, ich und meine grandmere. Und ich glaube nicht, dass es meiner Großmutter etwas ausmacht, wenn sie kommen; sie ist sowieso schon wie tot.«
Je länger David dem Mädchen zuhörte, desto hilfloser kam er sich vor. Welche Reaktion würde ihrem Schmerz gerecht? Er wusste, wie es war, als Kind plötzlich seine Eltern zu verlieren; die unbeschreibliche Verlassenheit, das innere Lied einsamer Verzweiflung. Er wollte helfen; zugleich wusste er, dem Mädchen war nicht zu helfen.
Das Mädchen nickte mit spröder Traurigkeit zu Amys Fragen. Ihre Jugend und ihre exotische Schönheit machten ihren Kummer noch augenfälliger.
»Ja, das kann ich Ihnen alles erzählen … ich kenne die Geschichte der Cagots. Mein Vater hat sie uns erzählt, seit wir klein waren. Er wollte, dass wir stolz sind - und uns nicht schämen.« Sie drehte den Kopf und lauschte kurz. Vielleicht nach ihrer Großmutter. Dann sah sie wieder David an. »Das ist, was ich weiß. Das ist, was mein Vater mir erzählt hat. Wir, die Cagots, wir waren … wir sind… ein Volk. Eine einzigartige Rasse. Zum ersten Mal erwähnt werden wir - sagt man das so? - ja, zum ersten Mal erwähnt werden wir in Dokumenten aus dem dreizehnten Jahrhundert. In dieser Region hier. In Navarra und in der Gascogne.«
David nahm einen Schluck Tee. Er achtete auf jedes Wort.
»Schon damals wurden wir Cagots als eine minderwertige Rasse betrachtet. Wir waren Ausgestoßene!«
Amy unterbrach sie. »Wie Parias? Unberührbare?«
»Oui. Im Mittelalter wurden die Cagots oft von der … normalen Landbevölkerung abgesondert. Wir hatten unsere eigenen Viertel, normalerweise auf der schlechten Seite des Flusses, auf der Malaria-Seite.« Eloise trank etwas Tee und fuhr fort: »Wenn man darauf achtet, kann man in den Dörfern und Städten der Pyrenäen noch heute Spuren dieser Gettos finden - zum Beispiel in Saint Jean Pied de Port oder in … Campan.«
David nickte aufgeregt. »Ja, das haben wir gesehen. Die alten Häuser und Ruinen in Campan.«
»Ja. Diese Gettos hießen Cagoteries. In Campan war eins der größten.«
»Was sonst noch?«, fragte Amy. »Was hat es mit den Türen auf sich?«
»Dazu müssen Sie zuerst die Geschichte der Cagots kennen«, antwortete Eloise. »Vraiment. Ganz wichtig war, dass die Cagots völlig vom Rest der Bevölkerung getrennt waren; wir wurden versteckt wie ein
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