Cagot
und dick. Und dass wir Kröpfe haben und an Kretinismus leiden. In anderen heißt es, wir sind blond und, jetzt halten Sie sich fest, auffallend blauäugig. Ein Mann, ein Gelehrter namens Michel, hat ein Buch über dieses Thema geschrieben - L’Histoire des Races Maudites.«
»Die Geschichte der … verfluchten Rassen?«, flocht Amy ein.
»Oui, oui. 1847. Es war eine der ersten wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich damit befasste. Michel fand mindestens zehntausend Cagots, die über die Gascogne und Navarra verstreut lebten und nach wie vor unterdrückt und ausgegrenzt wurden …« Eloise stand auf und trug ihre Tasse zur Spüle. Sie sprach weiter, während sie sie lustlos auswusch. »Nach Michel haben noch einige andere Historiker versucht, das Geheimnis der Cagots zu lüften, auch wenn die Franzosen nicht über uns sprechen wollen. Eine Theorie lautet, dass wir Lepra hatten - zumindest würde das die Regeln erklären, die es den Cagots untersagte, etwas anzufassen, was von Nicht-Cagots benutzt wurde. Einer anderen zufolge litten wir an einer ansteckenden Geisteskrankheit. Allerdings taugt diese Theorie nichts - denn viele andere Bücher beschreiben uns als gesund und robust. Und intelligent. Wie Sie hoffentlich sehen können? Wir sind keine Aussätzigen! Wir sind zwar dunkelhäutig, aber wir haben keine Lepra und sind auch nicht verrückt.«
David nickte.
»Natürlich nicht.«
Eloise fuhr fort.
»Ich glaube eher, dass wir Nachfahren maurischer Soldaten sind, die nach dem Einfall der Muslime im achten Jahrhundert in Spanien und Frankreich zurückgeblieben sind. Deshalb haben uns manche auch Les Sarasins genannt. Ich weiß zum Beispiel, dass meine Familie sehr dunkelhäutig ist.« Sie machte eine Pause. »Sie war sehr dunkel. Aber was genau dahintersteckt, werden wir wohl nie mehr erfahren. Dafür ist es jetzt zu spät, oder? Niemand will über uns sprechen. Möglicherweise sind auch nur noch wenige von uns übrig. Vielleicht war meine Familie die einzige und letzte … reinrassige Cagot-Familie auf der ganzen Welt… die ihren Stammbaum bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgen kann.«
»Und der Name Cagot? Woher kommt er?«
»Die Hunde der Goten - behaupten jedenfalls manche. Ich glaube, der Name Cagot ist einfach nur ein Schimpfwort. Die schmutzigen Menschen. Die Kackmenschen. Von Caca oder Kacke. Verstehen Sie jetzt? Verstehen Sie, warum wir Cagots versucht haben, unsere Herkunft zu verheimlichen, uns anzupassen …?«
Amy atmete geräuschvoll aus. »Die Letzten der Cagots. Unglaublich.«
»Ja.« Eloise schloss kurz die Augen. »Und diese verrückte Geschichte, sie hat dazu geführt, dass mein Vater und meine Mutter… dass sie ermordet wurden.«
David wollte fragen, warum um alles in der Welt jetzt noch jemand die Cagots auslöschen wollen sollte? Doch die Frage, und die dahinterstehende Logik, war einfach zu brutal, um sie zu stellen.
Ein leises Geräusch befreite ihn von seinem Dilemma. Eloises Großmutter stand in der Tür.
»Grandmere?« Eloise machte eine besorgte Geste.
Die alte Frau hob eine gebrechliche Hand. Sie sah David an und sagte: »Ich weiß, warum Sie hier sind, Monsieur Martinez. Ich kannte Ihren Vater.«
19
Es fiel David schwer, Madame Bentayou anzusehen. Schließlich fragte er: »Woher kannten Sie meinen Vater?«
Die alte Frau setzte sich an den Küchentisch und legte die Hände um eine leere Tasse. »Ich habe ihn hier in Gurs kennengelernt. Vor fünfzehn Jahren.«
»Als er ermordet wurde … mit meiner Mutter?« David spürte, wie sein Herz schneller schlug.
»Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Stelle zeigen, wo sie gestorben sind. Sie ist nur wenige Minuten von hier entfernt, im Lager.«
Eine Katze war in die Küche gekommen; sie tappte zu der Untertasse und begann, an der sauren Milch zu lecken. »In welchem Lager?«
Eloises Großmutter zuckte müde mit den Achseln.
»Können Sie mir die Stelle bitte zeigen?«, fragte David.
Die alte Frau antwortete sehr behutsam. »Natürlich kann ich sie Ihnen zeigen.«
Es war ein zehnminütiger Spaziergang durch die laubreiche Trostlosigkeit eines heruntergekommenen Vororts, vorbei an einer hässlichen Kirche und einer nicht besonders einladenden Brasserie, eine endlos lange, schnurgerade Straße entlang. Sie näherten sich den alten, von Brennnesseln überwucherten rostigen Bahngleisen - und überquerten sie nervös, als fürchteten sie, von einem Zug überfahren zu werden, obwohl der Betrieb auf der Strecke
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