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Cagot

Cagot

Titel: Cagot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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offensichtlich schon seit Jahrzehnten eingestellt war. Das Areal schien unnatürlich eben. David fragte sich, warum es so tot wirkte. So desolat und verlassen.
    Durch das kühler werdende Zwielicht schwirrten schwarze Insekten. Über eine weite Kiesfläche, die in regelmäßigen Abständen von rechteckigen betonierten Flächen durchsetzt war, gingen sie auf das hohe Kreuz in der Mitte zu. Madame Bentayou, immer noch in ihrer Strickjacke und den Schottenmusterpantoffeln, setzte sich mit ihrer Enkelin auf eine Holzbank. David blieb stehen und fragte die alte Cagot-Frau: »Das ist also das Lager? Und das Kreuz? Was hat es damit auf sich?«
    Mit einer matten Handbewegung deutete Madame Bentayou auf das unkrautüberwucherte Gelände mit den rissigen grauen Betonflächen.
    »Das hier war ein Nazilager. Ein Konzentrationslager.«
    Sie verstummte.
    David blickte sich um. Das also war der Grund für die seltsame Trostlosigkeit, die Gurs ausstrahlte - niemand wollte mehr in dem von seiner leidvollen Geschichte vergifteten Ort leben.
    »Die Nazis haben … den ganzen Südwesten Frankreichs besetzt, bis hinunter zur spanischen Grenze«, fuhr die alte Frau fort. »Die Grenze zu Vichy, dem Marionettenstaat Petains, befand sich hundertfünfzig Kilometer weiter östlich. Das hier war das größte KZ Südwestfrankreichs.«
    »Und wer wurde hier interniert?«
    »Die üblichen Personen. Das Mahnmal dort drüben, das Kreuz mit den Glaswänden, wurde zum Gedenken an sie errichtet.« Sie deutete nach links. »Die zwei Baracken dort drüben stammen noch aus dieser Zeit. Sie wurden erhalten.«
    Amy runzelte die Stirn.
    »Sie haben hier Juden eingesperrt?«
    »Ja. Aber auch …« Madame Bentayou hielt inne. »Alle möglichen Leute. Ursprünglich war das Lager ein Gefängnis für spanische Bürgerkriegsflüchtlinge, und dann übernahmen es die Nazis. Deshalb gab es dort bereits jede Menge Kommunisten und natürlich auch Basken. Unter den Nazis kamen dann noch Juden und Zigeuner dazu. Und andere Minderheiten.«
    Das Lagergelände war von schmuddeligen Pfützen überzogen, in denen sich die Wolken eines aufziehenden Gewitters spiegelten. Davids Blick wanderte in den hinteren Teil des riesigen Areals, wo sich ein von einer niedrigen Mauer umgebener Bereich befand.
    Dort war ein zweites Kreuz errichtet worden, ein weiteres Mahnmal.
    Die alte Frau bemerkte Davids Blick.
    »Das ist auch eine Gedenkstätte. Denn das war der … der berüchtigtste Teil des Lagers.«
    »Warum?«
    Madame Bentayou machte eine Pause, als müsste sie sich für das Kommende wappnen.
    »Dort war die medizinische Abteilung. Es war furchtbar. In diesem Teil des Lagers haben die Deutschen … dort haben sie die Experimente gemacht… wissenschaftliche Experimente. Medizinische Versuche.«
    Die alte Frau hielt ein zerknülltes Taschentuch in ihrer Faust, um die Tränen, so sie kommen sollten, aus ihren Augen zu tupfen. Sie fuhr fort: »Blutuntersuchungen. Gewebeuntersuchungen. Schreckliche Gräuel. Menschen wurden getötet und gefoltert. Viele Menschen.«
    Ihre Worte gerieten ins Stocken, sie war den Tränen nahe. David dämmerte die grausige Wahrheit.
    »Madame Bentayou.« Die Wörter kamen ihm nur mühsam über die Lippen. »Waren Sie auch in diesem Lager?«
    Die Stimme der alten Frau war kaum mehr als ein Flüstern.
    »Oui. Ich war hier. Als kleines Mädchen. Und meine Mutter, sie war auch in diesem Lager. Wie viele andere Cagots.« Sie schüttelte den Kopf. »Deshalb weiß ich, was Sie als Nächstes fragen werden. Sie wollen wissen, warum wir nach dem Krieg nicht von hier weggezogen sind?« Der Blick, den ihm die alte Frau zuwarf, war voll leidenschaftlichen Trotzes. »Die Cagots sind schon tausend Jahre hier, wir lassen uns nicht so einfach vertreiben! Von niemandem! Wir bleiben. Wir bleiben immer, es sei denn, sie bringen uns um.« Sie wischte ihre Tränen mit dem Taschentuch fort. Dann schien sie ihre Gefühle wieder im Griff zu haben. »Monsieur Martinez …«
    »Sagen Sie doch bitte David zu mir.«
    »Monsieur David, ich würde jetzt gern nach Hause gehen.
    Es tut mir leid. Aber wie Sie sicher verstehen können, nimmt mich das alles sehr mit. Normalerweise spreche ich nie darüber.«
    Sie erhob sich von der Bank. David spürte die nicht gestellte Frage wie einen körperlichen Schmerz. »Bitte - ich bitte Sie, ich muss unbedingt wissen, was mit meinen Eltern passiert ist.« Ihm entging nicht, wie fordernd sein Ton war. Aber das war ihm jetzt egal. »Was wollten sie

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