Cagot
mir alles erzählt, alles - die ganze Geschichte. Er steckt da voll mit drin, und Fermina auch …«
Er neigte den Kopf nach links, in Richtung Tür. »Aber wieso?« Amy sah ihn fragend an. Er wollte gerade ansetzen, ihr alles zu erklären. Aber er kam nicht mehr dazu. Ein schreckliches Geräusch, es war unverwechselbar, ließ ihn verstummen. Ein Schuss. Und kurz darauf ein zweiter. Im Zimmer der Garovillos.
David rannte zur Tür und drückte mit aller Kraft dagegen. Zunächst gab das verrostete Schloss nicht nach. Doch das morsche Holz war wurmzerfressen und die Angeln uralt, und schließlich flog die Tür krachend auf. Sie stürzten in das Zimmer.
David blieb wie angewurzelt stehen. Amy schlug bestürzt die Hände vor die Augen.
Vor ihnen saßen zwei Tote.
Jose und seine Frau.
Jemand hatte Fermina Garovillo aus nächster Nähe in die Schläfe geschossen; auf einer Seite war ihr Kopf nur noch blutiger Matsch. Ihren grausigen Nachhall fand die grässliche Wunde in einem von zahlreichen Spritzern umgebenen Blutfleck an der Wand dahinter. Wie es schien, hatte Jose zunächst seine Frau erschossen und die Waffe dann gegen sich selbst gerichtet. Er bot einen noch schlimmeren Anblick. Seine ganze Schädelplatte war weggerissen, und die Schmauchspuren auf seinen schmalen weißen Lippen ließen darauf schließen, wie er es gemacht hatte: den Lauf zwischen die Zähne geschoben, den Abzug gedrückt - und den Kopf weggepustet.
Weiteres Blut an der Decke und an der Wand hinter ihm bestätigte den Selbstmord. David warf einen kurzen Blick auf die graue gallertartige Masse, die an der Stuhllehne klebte, und spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.
Aber warum? Warum hatten sie das getan?
Eine Antwort, die Antwort, kam sofort. Motorengeräusch. Ein Auto.
Hektisch stürzte David ans Fenster und spähte nach draußen. Und tatsächlich. Da war er. Der Grund für Joses und Ferminas Selbstmord. Ein rotes Auto, das zwischen den regentriefenden Bäumen langsam die Straße heraufkam. Das konnte nur Miguel sein. David erinnerte sich an die Worte des alten Jose. Eines Tages wird er mich umbringen.
Amy kam zu David ans Fenster. Sie zitterte und war leichenblass.
Aber noch war nicht alles verloren. Das rote Auto wurde langsamer und hielt an; dann fuhr es wieder los, allerdings in die falsche Richtung. In David keimte neue Hoffnung auf. Noch suchte Miguel nach ihnen. Noch wusste der Wolf nicht, wo sie waren. Noch fuhr er auf der Suche nach ihnen einfach kreuz und quer durch die Gegend. Dass sie sich nach Campan zurückgezogen hatten, wusste er offenbar - hatte er vielleicht Eloise gefoltert? -, aber die genaue Lage ihres Verstecks kannte er noch nicht.
Dennoch war es nur eine Frage der Zeit, bis er die gut getarnte Abzweigung entdeckte, bis er durch die Büsche fuhr und das Haus sah. Und dann würde er kommen und sie töten. Epa. Epa. Epa.
»Die Pistole!«, stieß Amy hervor.
»Was für eine Pistole?«
»Hier muss doch irgendwo eine Pistole sein.«
Natürlich. Hastig blickte sich David nach Joses Pistole um. Schließlich, im gräulichen Licht zwischen Joses leblosen Beinen, das Schimmern von schwarzem Metall. David griff nach der Waffe. Sie war noch warm. Das Magazin musste noch fast voll sein. Es waren nur zwei Schüsse gefallen.
David hielt die Pistole hoch und richtete sie an die Decke. Plötzlich wurde ihm der ganze Wahnsinn der Situation bewusst. Vor kurzem war er noch ein lethargischer Medienanwalt gewesen, gelangweilt, behütet und von unerklärlicher Traurigkeit erfüllt. Er war jeden Morgen mit der District Line zur Arbeit gefahren und am Abend zu einem Chicken Curry aus der Mikrowelle nach Hause zurückgekehrt, um vielleicht hinterher mit einem Freund ein Bier trinken zu gehen. Und wenn er Glück hatte, war hin und wieder ein sexuelles Abenteuer mit einer Frau abgefallen, die er nicht liebte. Und jetzt war er hier, halb verrückt vor Angst, unglaublich wütend und in akuter Lebensgefahr - und trotzdem, da war es wieder, dieses seltsame Paradox: Er fühlte sich lebendiger denn je.
Mit einem Mal spürte er einen unbändigen Überlebenswillen. Er wollte leben, er wollte es unbedingt, und er wollte die wahren Gründe für die Ermordung seiner Eltern herausfinden und ihren Tod rächen. Aber dazu musste er erst einmal von hier entkommen.
»Der Garten hinter dem Haus«, zischte Amy. Sie kämpfte sichtlich mit den Tränen, aber sie war auch wütend und bemühte sich, tapfer zu sein. »Von dort versuchen wir, in die
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