Cagot
Artikel enthielt fast alle Informationen, die er benötigte, sogar die, dass David Martinez in London als Anwalt tätig gewesen war, bevor er diese rätselhafte Erbschaft gemacht hatte.
Es dauerte zwei Minuten, um im Internet die »renommierte Anwaltskanzlei« zu finden, in der David Martinez gearbeitet hatte. Es gab Listen mit den Anwälten jeder Kanzlei.
Simon stellte sich ans Fenster und rief in Martinez’ Kanzlei an. Eine strenge Stimme verlangte Namen und Referenzen, die er bereitwillig herausrückte: Simon Quinn vom Daily Telegraph.
Er wurde erst einmal von Pontius zu Pilatus verbunden: auf die Warteschleife gelegt, zur Personalabteilung durchgestellt, wieder auf die Warteschleife gelegt … doch dann kam er an einen unglaublich großkotzigen Mann namens Roland De Villiers, anscheinend David Martinez’ Chef, der nur zu bereitwillig die Handynummer seines Mitarbeiters herausrückte. Und nicht nur das, er fügte auch noch hinzu:
»Ich hoffe nur, er kriegt jede Menge Ärger.« Und damit wurde das Gespräch abrupt beendet.
Simon schaute auf seinen Notizblock, der auf dem Fensterbrett lag. Es war eine englische Nummer, die ihm der Anwalt mir nichts, dir nichts gegeben hatte. Als er die Ziffern eingetippt hatte, ertönten lange Pieptöne - ein Zeichen dafür, dass sich Martinez im Ausland aufhielt. In Spanien etwa?
Dann meldete sich via Satellit eine misstrauische Stimme.
»Ja … wer ist da, bitte?«
24
In der Luft hing der Geruch kalt gewordener Aale. David saß in der klammen Stille. Ihm gingen immer noch Joses letzte Worte durch den Kopf. Es dauerte eine Weile, bis er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Doch dann merkte er, dass er mit Amy reden, ihr alles erzählen musste. »Amy!«
Seine Stimme hallte durch das Haus. Er versuchte es noch einmal.
»Amy?«
Wo war sie? Er hatte sie schon eine Stunde nicht mehr gesehen. Schwer vorstellbar, dass sie sich bei diesem Regen im Freien aufhielt.
Er rief noch einmal nach ihr. Seine Stimme hallte von der schimmelnden Holzverkleidung zurück und den leeren Gang entlang. Nichts.
Ein rascher Rundgang durch das Erdgeschoss ergab, dass dort niemand war. Es war nichts zu hören als das hektische Rascheln fliehender Ratten.
War Amy vielleicht in dem Zimmer, das sie sich mit ihm teilte?
Er stieg die Treppe hinauf. Das Geräusch seiner Schritte folgte dem Takt seines Herzklopfens. Er rief erneut Amys Namen - nichts, der Flur war leer. David öffnete die Tür, und im selben Moment trat ihm, ganz plötzlich und mit erschreckender Lebhaftigkeit, das Bild vor Augen, das er sich vom Tod seiner Eltern gemacht hatte: der zertrümmerte Schädel seiner Mutter, das aus ihrem leblosen Mund triefende Blut…
Vielleicht hatte Amy das gleiche Schicksal ereilt. Jeder, der ihm nahestand, wurde ihm weggenommen, jeder.
David blickte sich in dem Zimmer um, in dem Amy und er die Nacht verbracht hatten. Es war leer. Nicht einmal Ratten gab es oder am Fenster krächzende Krähen. Die Betten waren unverändert aneinandergeschoben; das alte Heiligenbild hing immer noch schief an der abblätternden Wand. Durch die Decke sickerte faulige Nässe.
Blieb nur noch ein Zimmer. Das von Fermina und Jose. Aber die Tür war bestimmt verriegelt. War Amy vielleicht bei ihnen?
David fasste sich ein Herz, ging den Flur hinunter und rief durch die Tür: »Amy …? Amy, bist du da drin …?« Doch zurück kam nur bedrückende Stille.
Er hielt das nicht mehr aus. Alles in ihm schrie danach, von hier wegzukommen. Er wollte die Wahrheit aufdecken, er wollte Amy finden und dann einfach weglaufen, dieses schreckliche Haus ein für alle Mal hinter sich lassen, dieses Mahnmal der Unterdrückung, vollgesogen mit den Leiden und Schrecken der Cagots, gebrandmarkt, ausgegrenzt und gedemütigt.
Er hob die Faust, um erneut an die Tür zu klopfen. Notfalls würde er sie auch eintreten. Aber eine Stimme hielt ihn zurück. Im letzten Moment. Direkt hinter ihm.
»David?«
Er wirbelte herum. Es war Amy. »Wo warst du?!«
»Unten …«, Amy schüttelte den Kopf, »… im Keller … um nachzusehen, ob es dort…«
»Was?«
»Ob es dort vielleicht einen Geheimgang gibt. Du weißt schon, die Chemins des Cagots. Eloise hat erzählt, dass die Cagots Gänge gegraben haben … deshalb dachte ich, das wäre vielleicht eine Möglichkeit, unbemerkt von hier zu entkommen, falls doch jemand das Haus entdeckt… aber es ist nur ein stinknormaler Keller …«
Er legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Jose hat
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