Caius, der Lausbub aus dem alten Rom.pdf
sie vor der fünften Stunde nichts gesehen haben, aber als wir die Schrift morgens entdeckten, war die Farbe schon trocken; sie braucht viele Stunden, um zu trocknen. Sie kann nicht viel später als in der fünften Stunde der Nacht an die Wand gemalt worden sein."
„Rufus hätte also nachts das Haus verlassen müssen", fuhr Livia fort, „aber das ist unmöglich. Die Tür ist verschlossen und gut bewacht, durch die Fenster kann er nicht, weil sie viel zu klein sind, und die Gartenmauer ist zu hoch."
Die Jungen waren aufs neue verblüfft. Sie wußten aus eigener Erfahrung, daß es unmöglich war, nachts unbemerkt aus dem Haus zu kommen.
„Rompus hat ihn vielleicht heimlich rausgelassen", meinte Julius. „Nein", sagte Livia entschieden. „Das ist ausgeschlossen. Ich habe volles Vertrauen zu Rompus. Er ist uns treu ergeben, und wir können uns keinen besseren Erzieher für Rufus wünschen. Er ist mehr ein Freund in unserem Hause als ein Sklave. Mein Mann hat ihn aus Mazedonien mitgebracht. Rompus war damals noch ein Knabe. Wir haben ihn aufgezogen wie unsern eigenen Sohn. Wir wollen ihn auch bald freilassen. Er kann dann wählen, ob er bei uns bleiben möchte oder ein kleines Geschäft in der Stadt aufmachen will."
Sie seufzte. „Nun, es ist wohl das beste, ihr geht jetzt nach Hause. Im Augenblick können wir doch nichts tun. Wir müssen erst hören, was Rompus sagt."
„Kommt!" drängte Mucius die andern, aufzubrechen. Er sah, daß Livia erschöpft war und sicherlich gern allein sein wollte. „Dürfen wir noch rasch unsere Schulsachen aus Rufus' Zimmer holen?" fragte Julius.
Livia nickte. Die Jungen eilten in Rufus' Kammer. Livia folgte ihnen und hielt den Vorhang beiseite, damit sie mehr Licht hatten. Die Jungen nahmen ihre Schulsachen an sich und wollten hinausgehen, doch Mucius fiel plötzlich seine Laterne ein, die Rufus am Abend vorher irrtümlich mitgenommen hatte, und er schaute sich suchend um.
Rufus' Kammer war spartanisch einfach eingerichtet. An der einen Wand stand das Bett, darüber hing ein Bild seines Vaters in voller Generalsuniform; an der andern Wand standen ein kleiner Tisch, ein Hocker und ein Regal für seine Schulsachen und sein Spielzeug. Einen Schrank hatte er nicht; seine Kleider hingen an großen Nägeln.
„Was suchst du?" fragte Julius erstaunt.
„Ich suche meine Laterne", sagte Mucius. „Rufus hat sie gestern abend aus Versehen mitgenommen. Es ist eine sehr teure Laterne. Mein Name ist eingraviert. Ich kriege zu Hause bestimmt Krach, wenn man merkt, daß ich sie nicht habe."
„Ich werde sie sofort finden", sagte Antonius und lugte scharfäugig umher.
„Wo bleibt ihr?" fragte Livia und kam herein.
„Ich suche meine Laterne", sagte Mucius errötend. „Ich .. . ich hatte sie Rufus geborgt .. . ich hätte sie gern zurück."
„Sie wird zwischen seinen Sachen auf dem Regal sein", sagte Livia.
Mucius kramte das Regal durch, fand aber weiter nichts als Rufus'
Bücher und Schreibzeug, elf Murmeln, einen Kreisel, mehrere zerbrochene Holzsoldaten, ein kleines Messer, ein Stückchen alexandrinisches Glas und eine Sparbüchse.
Publius nahm ihm die Sparbüchse aus der Hand und schüttelte sie neugierig. „Sie ist leer", sagte er geringschätzig und stellte sie zurück.
Antonius war inzwischen unters Bett gekrochen und tauchte mit einem Bündel Kleider auf. „Das ist alles, was ich finden konnte", rief er enttäuscht.
Doch Livia war sehr erstaunt. „Es sieht Rufus nicht ähnlich, seine Sachen unters Bett zu stecken", sagte sie. „Er ist sonst immer sehr ordentlich." Sie nahm Antonius die Kleider weg und rief überrascht: „Die Sachen sind ja klitschnaß!"
Sie hielt sie hoch, um sie den Jungen zu zeigen. Die Sachen sahen tatsächlich so aus, als ob sie soeben aus dem "Wasser gezogen worden wären; dickeTropfen fielen klatschend auf den Steinfußboden.
„Warum sind sie naß?" wiederholte Livia fassungslos. In diesem Augenblick kam eine Sklavin herein und meldete aufgeregt: „Rompus ist schon zurück, Herrin!" „Jetzt schon?" fragte Livia. „Ist er denn nicht beim Arzt gewesen?" „Nein, Herrin", sagte die Sklavin. „Er ist unterwegs umgekehrt, weil er eine sehr wichtige Nachricht bringt."
10. Kapitel
Niemand wußte, daß die Mauer ein Loch hat
Als Livia und die Jungen in die Wohnhalle zurückkehrten, lief ihnen Rompus, ein hübscher, junger Sklave, freudig entgegen.
„Ich bringe gute Nachrichten, Herrin!" rief er.
„Was ist es?" fragte Livia erregt. Sie dachte
Weitere Kostenlose Bücher