Caius, der Lausbub aus dem alten Rom.pdf
„Seid gegrüßt!"
„Sei gegrüßt!" erwiderte Xantippus. „Wer bist du?"
„Seid ihr die Schüler der Xanthosschule?" fragte der Alte.
„Mein Name ist Xanthos", sagte Xantippus.
„Ich komme aus dem Gefängnis und bringe euch eine Botschaft von Rufus", sagte der Alte mit müder Stimme. Die Jungen umringten ihn aufgeregt und riefen durcheinander: „Aus dem Gefängnis? Wie geht es Rufus?"
„Er lebt noch", sagte der Alte. „Ich war mit ihm an derselben Kette angeschmiedet." Er hob seine mageren Arme hoch; seine Handgelenke waren blutunterlaufen und dick verschwollen. „Ich bin heute freigelassen worden."
„Ist Rufus auch freigelassen worden?" fragte Mucius leise.
Der Alte schüttelte traurig den Kopf. „Nein, er wartet darauf, daß man ihn vors Gericht bringt, aber niemand kümmert sich um ihn. Er lag neben mir auf dem feuchten Steinfußboden. Wir haben seit Tagen nichts zu essen und zu trinken bekommen. Aber er weint nicht. Er ist ein tapferer kleiner Junge. Nur einmal habe ich ihn nachts schluchzen hören."
Die Jungen schwiegen bestürzt.
„Hast du mit Rufus reden können?" fragte Xantippus sich räuspernd.
„Nein", erwiderte der Alte. „Wir wurden ständig bewacht. Niemand darf ein Wort sagen. Es gab Prügel, wenn man dagegen verstieß. Als der Wächter kam und mir die Ketten abnahm, richtete Rufus sich auf und schaute mich flehend an, als ob er etwas sagen wollte. Aber er traute sich nicht. Doch als ich hinausgeführt wurde, schrie er plötzlich hinter mir her: ,Geh in die Xanthosschule! Sag meinen Freunden, sie sollen dem roten Wolf den Schafpelz runterreißen!' Mehr konnte er nicht rufen; denn ein Wächter schlug wütend mit einem Stock auf ihn ein. Ich bin sofort hierher gekommen, um euch seine Botschaft zu bringen: ,Reißt dem roten Wolf den Schafpelz runter!' Was es bedeutet, weiß ich nicht. Ihr werdet es besser wissen. Aber beeilt euch! Es kann im Hades nicht fürchterlicher sein als im Gefängnis. Seid gegrüßt!" Der Alte verneigte sich und verschwand so plötzlich, wie er gekommen war.
Xantippus und seine Schüler starrten ihm verwirrt nach. Sie wußten genau so wenig wie der Alte, was Rufus' Botschaft bedeuten konnte.
„Wir sollen dem roten Wolf den Schafpelz runterreißen?" murmelte Julius. „Was meint er nur damit?" „Er meint, daß der rote Wolf einen Schafpelz anhat", sagte Caius. „Esel", sagte Mucius, „erst müssen wir wissen, wer der rote Wolf ist."
Die Jungen blickten hoffnungsvoll auf Xantippus.
„Weißt du, wer der Wolf ist?" fragte Mucius respektvoll.
„Ich kenne keinen Wolf", sagte Xantippus.
„Warum ist der Wolf rot?" rief Flavius.
„Ich kenne auch keinen roten Wolf", sagte Xantippus mürrisch.
„Vielleicht hilft uns der Schafpelz irgendwie weiter", deutete Julius vorsichtig an.
„Der Wolf im Schafspelz ist eine alte Fabel", sagte Xantippus. „Wir werden uns gleich damit beschäftigen, wenn die Ferien zu Ende sind."
Die Jungen fanden diese Ankündigung in Anbetracht ihrer Lage wenig trostreich. Sie spekulierten auf eigene Faust weiter.
„Der rote Wolf ist der Täter", meinte Julius.
„Aber was hat das mit Tellus zu tun?" sagte Mucius. „Tellus ist doch kein roter Wolf." „Tellus ist auch klein und nicht groß", sagte Caius. „Ich verstehe nicht, warum Rufus uns nicht den richtigen Namen schickt? Er muß ihn doch wissen", sagte Publius.
„Schweigt!" unterbrach Xantippus sie. „Wir müssen methodisch denken. Warum hat Rufus den wahren Namen nicht verraten? Weil er nicht wollte, daß die Wächter ihn hören. Er fürchtet, daß sie hinlaufen und den Täter warnen. Das beweist wiederum, daß der Täter eine hochstehende Persönlichkeit ist. Rufus hat noch immer Angst um seinen Vater. Selbst die Qualen des Gefängnisses können ihn nicht dazu bewegen, seinen Vater zu gefährden. Er wird sich die Botschaft an uns wohl überlegt haben. Die Wärter können nicht wissen, wer mit dem roten Wolf gemeint ist. Aber Rufus nimmt an, daß wir es sofort erraten müssen. Leider können wir es nicht, und deswegen hilft uns seine Botschaft nichts. Wir sind in einer Sackgasse. Laßt mich nachdenken!"
„Es ist zum Verzweifeln", sagte Mucius seufzend, und damit drückte er vortrefflich die allgemeine Stimmung aus. Aber Xantippus und die Jungen begingen einen Fehler. Sie sahen, sozusagen, den Wald vor lauter Bäume nicht. Sie hätten nur aus dem Fenster zu schauen brauchen, dann hätten sie sofort geraten, wer der rote Wolf war. Mit ein bißchen Scharfsinn,
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