Calendar Girl
noch ein salonfähiges BDSM-Motiv für die Jahresmitte. Nichts übermäßig Hartes, die weichgespülte Variante, die sich die Kunden der Agentur auch aufzuhängen trauten.
Er trank und schloss seufzend die Augen. Der Whisky schärfte seine Sinne, ließ seine Imagination auf Hochtouren laufen. Caro war athletisch genug, um auch eine anstrengendere Variante ihres ersten Bildes aushalten zu können. Er hatte Gurte und Lederbänder besorgt, dazu Gaffer Tape und Hand- und Fußfesseln mit starken Ringen und Karabinerhaken. Die entsprechenden Aufhängevorrichtungen an der Studiodecke hatte er schon vor längerer Zeit angebracht, es musste immer mal wieder ein Dekorationsteil aufgehängt oder ein Objekt im Flug fotografiert werden. Die Vorrichtung hielt so ein Leichtgewicht wie Caro locker aus. Er musste ihr die Inszenierung nur noch verkaufen und das könnte schwierig werden.
Mit geschlossenen Augen saß er da und ließ seine Gedanken in die Vergangenheit wandern. Er hatte damals noch in Flingern gewohnt und seine Stammkneipe war das Tschakka gewesen, nicht, weil er den Laden besonders mochte, sondern weil er dafür nur aus der Haustür fallen und zur Ecke gehen musste. Eine Minute und vierzig Sekunden bis zu seinem Platz am Tisch in der hinteren Ecke.
Dort hatte er Caro zum ersten Mal gesehen. Sie schlängelte sich geschmeidig und energisch durch das Gedränge zwischen Theke und Billard, trug das volle Tablett scheinbar mühelos hoch über ihrem Kopf, und sie strahlte etwas aus, was ihn von den Füßen haute. Er konnte nicht aufhören, sie anzustarren, und sie bemerkte es natürlich, ging aber darüber hinweg.
Irgendwann war die Kneipe bis auf die üblichen zwei fest an der Theke installierten Schnapsleichen leer, die Wirtin machte Kasse, ein Kellner stellte die Stühle hoch und fegte aus, und Caro kam von hinten, stellte ihren Rucksack neben ihn auf die Bank und setzte sich ihm gegenüber. »Trinkst du noch einen Absacker mit mir?«, fragte sie und schenkte ihm dieses Lächeln, das ihm direkt ins Zentrum seiner Seele fuhr.
Sie quatschten sich fest, erst dort, dann bei ihm in der Wohnung, und Caro übernachtete schließlich in seinem Bett. Er schlief auf der Besuchermatratze - nein, er lag wach auf der Besuchermatratze und stellte sich vor, wie Caro schlafend nebenan lag, nur durch eine dünne Rigips-Wand von ihm getrennt. Damals war ihm schon klar gewesen, dass sie nichts von ihm wollte, dass er nicht ihrer Vorstellung von einem Liebhaber entsprach. Da war so gar nichts zwischen ihnen übergesprungen - bis auf das Gefühl von Vertrautheit, als würden sie sich schon seit Urzeiten kennen.
Seitdem waren sie befreundet. Und seitdem wünschte er sich mehr als nur Freundschaft und hatte gleichzeitig Angst davor, sie durch eine falsche Bewegung zu verscheuchen wie einen halbzahmen Vogel. Sie wirkte so stark, so unbekümmert und nahezu unverletzlich, aber er wusste, dass sie einen dunklen Kern besaß, genau wie er. Eine Stelle, tief in ihrem Inneren, die sie niemandem zeigte. Jemand hatte sie verletzt und nun trug sie diese Verletzung in sich wie eine schöne, tödliche Blume, die sie vor den Augen der Welt beschützen musste.
Er trank und verzog den Mund zu einem freudlosen Lächeln. Was für ein pathetischer Scheißdreck. Caro fuhr einfach nicht auf ihn ab. Punkt.
Er schenkte sich nach und drehte das Glas nachdenklich in den Fingern. Dann beugte er sich vor, betrachtete wieder die Fotos von Caro und spürte mit einem beinahe masochistischen Vergnügen, wie der schmerzhafte Druck in seinem Inneren sich unerträglich aufstaute. Er musste etwas unternehmen, um ihn abzubauen.
Kurz entschlossen griff er zu seinem Smartphone. Die schnell geknipsten Schnappschüsse von Caro, die er darauf gespeichert hatte, ließen ihn einen Moment lang innehalten. Er vertiefte sich in den Anblick ihres Lachens, ihrer blitzenden Augen, einer stillen, konzentrierten Pose, mit der sie über einem Buch saß ... hundert Aufnahmen von ihr, von ihrem Gesicht, ihren Gesten, ihrem Lachen, ihren ernsten Momenten, unbeobachtet aufgenommen und konserviert. Das waren keine Fotos, die ihm gefährlich werden konnten, das waren nur Momentaufnahmen ohne Tiefe, ohne Anspruch. Festgehaltene Erinnerungen, nicht mehr.
Er wischte die Bilder mit einer energischen Bewegung vom Display und blätterte durch seine Kontakte. Evelyn. Das Januarmodell. Sie hatte die ganze Zeit mit ihm geflirtet, was ihm während der Fotosession unglaublich auf die Nerven gefallen war.
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