Calhoun Chronicles 03 - Die Schoene Tochter Des Senators
der Schule quälte sie ihre Lehrer mit Fragen über das Universum. Als ihre Ausbilder nicht mehr weiterwussten, engagierte ihr Vater einen verarmten Mathematikstudenten aus Georgetown, der ihr einen Sternenatlas sowie einen Fotoband mit Bildern der Sterne und Planeten schenkte.
Jahrelang sparte sie ihr Kleidergeld, um sich davon ihr Allerheiligstes auf dem Dach zu erbauen; Helena und ihr Vater nannten es „Abigails Torheit“, doch sie hatten es sich längst abgewöhnt, mit ihr darüber zu streiten. Und so war Abigail die einzige Frau in der Hauptstadt, die ein eigenes Observatorium besaß.
Der Standort war nicht ideal, denn die Atmosphäre in Höhe des Meeresspiegels war zu dicht und störte oft die Beobachtung der Sterne. Trotzdem kam sie damit zurecht, und nur manchmal sehnte sie sich nach einem klareren Himmel.
Die drehbare Kuppel war nach dem privaten Observatorium von Maria Mitchell gestaltet, der größten Astronomin des Landes. Sie hatte sich inzwischen zur Ruhe gesetzt und lebte von der Pension, die ihr vom Vassar-College für Frauen gezahlt wurde. Abigail jedoch besaß eine Gabe, welche selbst der großen Professorin Mitchell fehlte: Sie vermochte mit dem bloßen Auge schärfer und weiter zu sehen als jeder andere Mensch.
Schon immer war sie mit beinahe übermenschlicher Sehkraft gesegnet - oder vielleicht geschlagen - gewesen. Ein Schiff am Horizont oder einen Schwarm Zuggänse am Himmel sah sie stets als Erste. Ihr ausgeprägtes Wahrnehmungsvermögen für Farben zeigte ihr ein so strahlendes Frühlingsgrün, dass es in ihren Augen schmerzte, und das intensive Gold und Orange der Herbstfarben bereiteten ihr Kopfweh. Mit so viel Schönheit um sich herum spürte sie oft einen Schmerz, den sie nicht verstand. Möglicherweise waren ja ihre Sehkraft und ihr Wahrnehmungsvermögen das, womit die Natur sie für ihren missgebildeten Fuß entschädigte.
Der Mond war untergegangen und schaffte damit bessere Bedingungen für die Sternbeobachtung mit bloßem Auge. Für ein paar Momente vergaß Abigail ihren Ärger über irdische Belange, setzte sich auf einen niedrigen Hocker und verlor sich im Anblick der Sterne. Obwohl es natürlich ein vollkommen unwissenschaftliches Empfinden war, meinte sie, über die Erde, über die bekannte Welt hinauszuschweben zu etwas Unendlichem und Mysteriösem.
Sie atmete die kühle, nach Holzrauch und trockenen Blättern riechende Herbstluft ein und ließ den Blick über den Himmel schweifen.
„Hallo, Mutter“, flüsterte sie der Frau zu, die sie nie kennen gelernt hatte. „Ich habe heute Abend getanzt. Mit Leutnant Boyd Butler. Es war wundervoll. Du wärst sehr stolz auf mich gewesen Plötzlich stockte sie, weil sie daran denken musste, dass sie beinahe hingefallen und dann in den Armen des unverschämten James Calhoun gelandet war. Schnell wischte sie diese Erinnerung beiseite und fuhr fort: „Der Sohn des Vizepräsidenten! Kannst du dir das vorstellen, Mutter? Natürlich kannst du das. Vater war ja auch der Sohn eines Politikers. Vielleicht liegt es uns im Blut, regierende Männer zu lieben. Mr. Calhoun - ihn lernte ich ebenfalls heute Abend kennen, doch er ist ganz anders als Leutnant Butler - behauptet, es sei gar keine Liebe, weil ich nicht weinte, nicht tobte, nicht auf den Boden stampfte und mir nicht das Haar ausgerissen habe. Doch das zählt ja nicht. Boyd Butler wird nie erfahren, wie es in meinem Herzen aussieht. Dies wird ein weiteres meiner Geheimnisse sein. Nun, ich dachte nur, du solltest es wissen. Also gute Nacht, Mutter. Ich liebe dich.“
Abigails Flüstern verhallte in der kühlen Luft. Sie kam jede Nacht hier herauf, um eine einseitige Unterhaltung mit einem Geist zu führen. Aber nicht nur das. Sie beobachtete den Himmel, der so schön, unendlich und wundersam war. Und sie hielt nach etwas Ausschau.
Abigail erwartete einen Kometen.
Wenn sie das den Leuten erzählte, sah man sie oft bestürzt an und schüttelte den Kopf. „Wäre es nicht einfacher, eine Nadel in einem Heuhaufen zu suchen?“ fragte man sie dann.
Abigail erwartete nicht, dass es leicht sein würde. Doch aufgeben wollte sie auch nicht. Helena mochte ihre Mutter in dem Schmuck, den alten Bildern und in den Andenken suchen, doch Abigail wusste es besser: Falls sie wirklich jemals ihre Mutter fand, dann hoch oben im unendlichen Nachthimmel, versteckt zwischen den Sternen.
„Guten Morgen, liebster Papa! Guten Morgen, liebste Schwester!“ Mit dieser Begrüßung platzte Helena ins
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