Calhoun Chronicles 03 - Die Schoene Tochter Des Senators
schön und weit davon entfernt, geistlos zu sein. Trotzdem interessierte sie ihn, und er hätte gern die Gedanken hinter diesen leicht verwirrenden mitternachtsblauen Augen ergründet.
„Glauben Sie mir, ich gebe keine Bescheidenheit vor“, erklärte sie.
Er steuerte sie zum Nordausgang. „Bescheidenheit wird ohnehin überbewertet.“
„Ich gehe mit Ihnen nicht nach draußen!“ Sie versuchte, ihren Ellbogen seinem Griff zu entziehen.
An dem flammenden Rot ihrer Wangen sah er, dass sie an das heimliche Rendezvous dachte, welches sie vorhin unterbrochen hatte. „Miss Cabot, Ihre Tugend ist nicht in Gefahr, das verspreche ich.“
„Weshalb sollte ich Ihnen trauen? Ich kenne Sie ja nicht einmal.“
„Dann trauen Sie sich selbst. Ein Mann kann einer Frau nur dann die Tugend rauben, wenn diese sie ihm überlässt. Und dafür sind Sie nicht der Typ.“
Zu seiner Erleichterung schien sie sich mit dieser Bemerkung zufrieden zu geben. Sie widersetzte sich nicht länger und begleitete ihn hinaus in den dunklen Innenhof.
„Eine wunderschöne Nacht“, meinte er.
„Eigentlich nicht.“ Sie hob das Gesicht dem Nachthimmel entgegen. „Sie liegt nur wenig über dem Durchschnitt.“
„Sind Sie immer so streitsüchtig?“
„Nur objektiv.“ Sie deutete auf eine große Konstellation. „Der Nordamerikanebel ist heute Nacht kaum sichtbar, der Doppelsternhaufen im Perseus ist unbedeutend, und von Barnards Pfeilstern sieht man nur einen Schimmer.“
Bei den meisten Frauen, so fand Jamie, wirkte ein bisschen Bildung recht bezaubernd, doch er wusste, dass Abigail ihn überhaupt nicht bezaubern wollte. Sie verfügte auch nicht über ein „bisschen Bildung“. Wahrscheinlich besaß sie ein enzyklopädisches Wissen über den Nachthimmel und Gott weiß was noch. Diese Frau war nicht nur irritierend - sie war belesen, streitsüchtig und stachelig.
„Gut“, meinte er. „Es ist also eine durchschnittliche Nacht. Und was ist mit der Hochzeit? War das eine durchschnittliche Feier?“
Geistesabwesend stieß sie ihren Finger gegen die Unterlippe. Dass er einen spöttischen Scherz gemacht hatte, schien ihr entgangen zu sein. „Du liebe Güte, nein. Die lag eindeutig über dem Durchschnitt.“
„Und weshalb das?“
„Weil es eine Liebesheirat war.“
Er lachte leise. „Das wird auch immer überbewertet.“
„Die Liebe?“
„Genau.“ Davon war er zutiefst überzeugt.
„Dann haben Sie offenbar noch nie geliebt, denn sonst würden Sie das nicht sagen.“
Wenn sie wüsste! „Und Sie? Haben Sie schon jemals geliebt?“
Abigail hielt seinem Blick stand. „Von ganzem Herzen!“ antwortete sie aufrichtig, ohne spröde zu wirken, was in ihm eine Empfindung auslöste, die ihn überraschte: Er fühlte sich gezwungen, Miss Abigails Behauptung zu hinterfragen. „Leutnant Boyd Butler?“ riet er auf gut Glück.
Sie senkte den Kopf.
„Weshalb tanzt er dann mit Ihrer Schwester?“
„Mir ist bekannt, dass Sie von der Küste stammen, Sir, doch dumm kommen Sie mir nicht vor. Meine Schwester kann einen Raum nicht betreten, ohne dass sich ein halbes Dutzend Männer auf der Stelle in sie verliebt. Mr. Butler bildet da durchaus keine Ausnahme.“
„Sie behaupten also, ihn zu lieben, während er in Ihre Schwester verschossen ist.“
„Das geht Sie wirklich nichts an.“
„Ich fühle mich nur gezwungen, Sie auf etwas hinzuweisen, das Ihnen nicht klar ist“, erklärte Jamie. „Sie lieben Boyd Butler nicht und haben es nie getan.“
Das verärgerte sie. „Natürlich habe ich das! Wie wollen Sie das überhaupt beurteilen?“
Er überhörte diese Frage. „Wann ist Ihnen diese plötzliche Anwandlung gekommen?“
„Ich kenne ihn seit frühester Kindheit. Unsere Väter waren befreundet. Es war keine plötzliche Anwandlung, Sir, sondern etwas, das ich seit Jahren fühle. Doch heute Abend ..." Sie sprach nicht weiter, und ihr Gesicht wirkte jetzt weich, was ihn erschreckte. „Heute Abend teilten wir einen ganz besonderen Moment.“
Einen recht einseitigen Moment, doch darauf wollte Jamie sie nicht hinweisen. „Wie fühlt sich das an, diese große Liebe zu dem Leutnant?“
Sie runzelte die Stirn. „So, als ob man ... die Lösung zu einem mathematischen Problem findet. Auch wenn er meine Gefühle nicht erwidert, weiß ich ganz einfach, dass ich ihn liebe, und dieses Wissen macht mich glücklich.“
„Das beweist, dass Sie ihn nicht lieben.“
„Was? Die Tatsache, dass er mich glücklich macht?“
„Jawohl.“
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