Calibans Krieg
musste doch einen Weg geben. Einen Weg, die Pflanzen zu retten.
»Prax«, sagte Doris. »Wir müssen gehen. Jetzt sofort.«
Die Glycine kenon war das Spitzenprodukt der genügsamen Nutzpflanzen. Eine stark modifizierte Sorte Sojabohnen, eigentlich sogar schon eine neue Spezies, auf die er die letzten acht Jahre seines Lebens verwendet hatte. Sie waren der Grund dafür, dass seine Eltern ihr einziges Enkelkind immer noch nicht in Fleisch und Blut gesehen hatten. Die Pflanzen und einige andere Dinge hatten das Ende seiner Ehe heraufbeschworen. Vor sich auf dem Feld sah er acht leicht unterschiedliche genmanipulierte Chloroplasten, die jede für sich versuchten, pro Photon so viel Protein wie möglich zu erzeugen. Seine Hände zitterten. Er musste sich gleich übergeben.
»Uns bleiben höchstens noch fünf Minuten bis zum Einschlag«, drängte Doris. »Wir müssen evakuieren.«
»Ich sehe noch nichts«, erwiderte Prax.
»Es kommt sehr schnell, und wenn Sie es sehen, ist es zu spät. Wir sind die Letzten. Jetzt steigen Sie endlich in den Aufzug.«
Die großen Orbitalspiegel waren immer seine Verbündeten gewesen. Sie hatten wie hundert bleiche Sonnen die Felder beleuchtet. Er konnte nicht glauben, dass sie ihn verraten hatten. Das war ein völlig abwegiger Gedanke. Der Spiegel, der angeblich auf Ganymed stürzte – auf sein Gewächshaus, seine Sojabohnen, sein Lebenswerk –, hatte sich nicht selbst dazu entschieden. Er war ein Opfer von Ursache und Wirkung. Genau wie alles andere.
»Ich gehe jetzt«, erklärte Doris. »Wenn Sie noch vier Minuten bleiben, werden Sie sterben.«
»Warten Sie.« Prax rannte in die Kuppel hinein, kniete am Rand des nächsten Feldes nieder und durchwühlte die fruchtbare schwarze Erde. Der Geruch umfing ihn wie gutes Patschuli. Er stieß die Finger so tief er konnte hinein und ertastete eine Wurzelknolle, mit der er die ganze empfindliche Pflanze herausheben konnte.
Doris stand schon im Lastenaufzug und war bereit, in die Höhlen und Tunnel der Station hinunterzufahren. Prax rannte zu ihr. Da es nun galt, die Pflanze zu retten, kam ihm die Kuppel auf einmal schrecklich gefährlich vor. Er sprang durch die Tür, und Doris drückte den Knopf. Der große Metallkasten ruckte, wackelte und sank hinab. Normalerweise hätte die Kabine schweres Gerät befördert: den Pflug, den Traktor und die Tonnen von Humus, den sie den Recyclern der Station entnahmen. Jetzt waren sie zu dritt: Prax saß im Schneidersitz auf dem Boden und beschützte die junge Pflanze auf dem Schoß, während Doris an der Unterlippe nagte und ihr Handterminal beobachtete. Der Aufzug war viel zu groß für sie.
»Vielleicht verfehlt uns der Spiegel«, überlegte Prax.
»Das ist möglich. Aber er besteht aus tausenddreihundert Tonnen Glas und Metall. Die Schockwelle wird trotzdem heftig.«
»Vielleicht hält die Kuppel.«
»Nein«, antwortete sie, und Prax sagte nichts mehr.
Summend und klappernd glitt die Kabine unter das Eis bis zum Netzwerk der Tunnel, die den größten Teil der Station ausmachten. Es roch nach Heizspiralen und Schweröl. Er konnte immer noch nicht glauben, dass sie es wirklich getan hatten. Er konnte nicht akzeptieren, dass die Schweinehunde beim Militär tatsächlich aufeinander schossen. So kurzsichtig konnte doch niemand sein. Aber anscheinend war diese Annahme falsch.
In den Monaten, nachdem die Allianz von Erde und Mars zerbrochen war, hatte er zuerst eine beständig nagende Angst, dann vorsichtige Hoffnung und schließlich Gelassenheit empfunden. Jeder Tag, an dem die Vereinten Nationen und die Marsianer untätig geblieben waren, hatte als kleiner Beweis dafür gelten dürfen, dass sie auch in Zukunft friedlich bleiben würden. Er hatte sich eingeredet, die Situation sei viel stabiler, als man auf den ersten Blick meinen konnte. Selbst wenn es übel ausging und ein heißer Krieg begann, würde es nicht hier geschehen. Ganymed lieferte Nahrung. Dank seiner Magnetosphäre war es der sicherste Ort, an dem Schwangere sich aufhalten konnten, und die Verantwortlichen würden nie zulassen, dass der Krieg hierher übergriff.
Doris sagte etwas Ordinäres. Prax blickte zu ihr hoch. Sie strich sich mit einer Hand über das schüttere weiße Haar, drehte sich um und spuckte aus.
»Ich habe die Verbindung verloren.« Sie hob das Handterminal. »Das ganze Netzwerk ist blockiert.«
»Von wem?«
»Von den Sicherheitskräften der Station, von den Vereinten Nationen, vom Mars. Woher soll ich das
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