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Calibans Krieg

Calibans Krieg

Titel: Calibans Krieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James S. A. Corey
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hatte man es dem natürlichen Eis des Mondes erlaubt, sich auszubreiten und wieder zu gefrieren. Das Ergebnis wirkte wie eine Mischung aus einem Naturpark und einem Kunstwerk. Es gab einen Blitz, eine Erschütterung, und der Roller geriet ins Schleudern. Als die Wand viel zu schnell näher kam, konnte Prax im letzten Moment vor dem Aufprall das Bein zurückreißen. Über sich hörte er laute Stimmen. Die kämpfenden Truppen trugen Rüstungen und benutzten die eingebauten Funkgeräte. Das dachte er zumindest. Also mussten die Leute, die dort schrien, normale Einwohner sein. Eine zweite Explosion drückte die Wand der Höhle ein, und ein Brocken blauweißes Eis in der Größe eines Traktors brach von der Decke ab und stürzte langsam und unausweichlich auf den Boden, wo es zerplatzte. Prax hatte Mühe, den Roller aufrecht zu halten. Sein Herz fühlte sich an, als wollte es gleich zerspringen.
    Am oberen Ende der gekrümmten Rampe entdeckte er Gestalten in Rüstungen. Er wusste nicht, ob sie von der UN oder vom Mars stammten. Eine drehte sich zu ihm herum und hob das Gewehr. Prax beschleunigte und raste mit dem Roller rasch die Rampe hinunter. Das Knattern automatischer Waffen und der Geruch von Rauch und schmelzendem Metall verfolgten ihn.
    Die Tür der Schule war heruntergelassen. Er wusste nicht, ob er das beängstigend oder beruhigend finden sollte. Sobald der wacklige Roller stand, sprang er mit schwachen, unsicheren Beinen herunter. Eigentlich wollte er behutsam an die stählerne Tür klopfen, doch beim ersten Schlag sprang die Haut auf den Knöcheln auf.
    »Öffnen Sie! Meine Tochter ist da drin!« Er schrie wie ein Irrer, bis ihn irgendjemand im Inneren auf dem Überwachungsmonitor hörte oder sah. Die Stahlplatten der Tür bebten und fuhren nach oben. Prax ging in die Hocke und kroch hindurch.
    Die neue Lehrerin, Miss Carrie, hatte er bisher nur einige Male gesehen, als er Mei hergebracht oder abgeholt hatte. Sie war kaum älter als zwanzig und groß und dünn wie alle Gürtler. So grau wie jetzt war ihr Gesicht allerdings noch nie gewesen.
    Glücklicherweise war das Klassenzimmer völlig intakt. Die Kinder saßen im Kreis und sangen ein Lied über eine Ameise, die durch das Sonnensystem reiste. Für alle wichtigen Himmelskörper gab es eine eigene Strophe. Hier waren weder Blutflecken noch Einschusslöcher zu sehen, nur der Geruch von brennendem Plastik drang durch die Lüftung herein. Er musste Mei an einen sicheren Ort bringen, auch wenn er im Moment nicht wusste, wo dieser Ort sein sollte. Sein Blick wanderte über den Kreis der Kinder, als er ihr Gesicht und ihr Haar suchte.
    »Mei ist nicht hier, Sir«, erklärte Miss Carrie atemlos und mit gepresster Stimme. »Ihre Mutter hat sie heute Morgen abgeholt.«
    »Heute Morgen?« Prax konnte es nicht fassen. Was hatte Nicola auf Ganymed zu suchen? Erst zwei Tage vorher hatte er von ihr eine Nachricht bezüglich des Sorgerechts für das Kind bekommen. Sie konnte doch unmöglich in nur zwei Tagen von Ceres nach Ganymed gereist sein …
    »Gleich nach der Frühstückspause«, ergänzte die Lehrerin.
    »Sie meinen, Mei wurde evakuiert. Irgendjemand ist gekommen und hat Mei in Sicherheit gebracht.«
    Eine weitere Explosion erschütterte das Eis. Ein Kind stieß einen schrillen, erschrockenen Laut aus. Die Lehrerin blickte kurz hinüber, dann wandte sie sich an ihn und sprach mit leiser Stimme weiter.
    »Ihre Mutter ist direkt nach der Pause gekommen und hat Mei mitgenommen. Mei war nicht den ganzen Tag hier.«
    Prax zückte sein Handterminal. Es war immer noch tot, aber als Hintergrundbild benutzte er eine Aufnahme von Meis erstem Geburtstag. Damals war alles noch in Ordnung gewesen. Es war eine Ewigkeit her. Er hielt das Bild hoch und zeigte auf Nicola, die lachend das feiste entzückte Bündel hochhob, das Mei damals gewesen war.
    »Sie?«, fragte Prax. »War sie wirklich hier?«
    Die verwirrte Miene der Lehrerin war Antwort genug. Es hatte einen Fehler gegeben. Irgendjemand – ein neues Kindermädchen, eine Sozialarbeiterin oder sonst jemand – hatte das falsche Kind abgeholt.
    »Sie war im Computer«, erklärte die Lehrerin. »Sie war im System, es hat sie identifiziert.«
    Das Licht flackerte, der Rauchgeruch wurde stärker. Die Luftaufbereiter summten laut und kämpften knisternd und knackend mit den flüchtigen Partikeln. Ein Junge, dessen Namen Prax hätte kennen sollen, begann zu weinen. Die Lehrerin drehte sich automatisch zu ihm um. Prax fasste sie am

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