Calibans Krieg
andere zu verletzen, und dabei die Grenze zwischen notwendiger Gewalt und Wirkungslosigkeit genau beachteten.
»Fünfzig Tote bisher«, erklärte Avasarala. »So lautet jedenfalls die Schätzung. Der Mond ist jetzt schon im Eimer, und sie hätten auch an Krankheiten und Unterernährung sterben können. Stattdessen sterben sie an dem da.«
»Ich war schon mal in dem Restaurant«, sagte Bobbie.
Avasarala runzelte die Stirn, weil sie nicht wusste, ob es wörtlich gemeint oder eine Metapher war. Bobbie deutete auf den Bildschirm.
»Das Lokal, vor dem die Menschen sterben. Dort habe ich gegessen, als ich kurz nach Erhalt meines Einsatzbefehls auf dem Mond eintraf. Sie hatten gute Würstchen.«
»Tut mir leid«, sagte Avasarala, doch die Marinesoldatin schüttelte nur den Kopf.
»Also ist die Katze aus dem Sack«, meinte sie.
»Vielleicht«, antwortete Avasarala, »vielleicht auch nicht.«
»James Holden hat gerade dem ganzen System erklärt, dass auf Ganymed das Protomolekül unterwegs ist. In welchem Universum gilt das als ›vielleicht auch nicht‹?«
Avasarala öffnete einen bedeutenden Newsfeed, ging die Beschreibungen durch und wählte den Kanal mit den Experten aus, die sie sehen wollte. Die Daten liefen zunächst ein paar Sekunden lang in den Puffer. Sie bat mit erhobenem Finger um Geduld.
»… völlig unverantwortlich«, sagte ein Mann mit ernstem Gesicht, der einen Laborkittel und eine Kufimütze trug. Die Verachtung, mit der er sprach, konnte Farbe abblättern lassen. Neben ihm erschien die Interviewerin. Sie war höchstens zwanzig Jahre alt, hatte kurzes, glattes Haar und trug ein dunkles Kostüm, das sie als ernsthafte Journalistin auswies.
»Also sind Sie der Meinung, das Protomolekül sei dort gar nicht zu sehen?«
»Ganz bestimmt nicht. Die Bilder, die James Holden und seine kleine Gruppe senden, haben nichts mit dem Protomolekül zu tun. Dieses Geflecht erscheint, wenn Bindemittel durchsickern. So etwas passiert laufend.«
»Dann gibt es also keinen Grund zur Panik?«
»Alice.« Der Experte richtete seine ganze Herablassung auf die Journalistin. »Nach wenigen Tagen war ganz Eros eine Horrorshow. Seit die Feindseligkeiten begonnen haben, war auf Ganymed jedoch kein Anzeichen einer um sich greifenden Infektion zu erkennen. Absolut keines.«
»Aber es ist doch ein Wissenschaftler bei ihm. Der Botaniker Dr. Praxidike Meng, dessen Tochter …«
»Ich kenne diesen Herrn Meng nicht, aber nachdem er mit ein paar Sojabohnen herumgespielt hat, ist er so wenig ein Experte für das Protomolekül wie ein Gehirnchirurg. Es tut mir natürlich sehr leid, dass seine Tochter verschwunden ist, aber wenn das Protomolekül auf Ganymed wäre, dann wüssten wir es schon längst. Diese ganze Aufregung ist ein Sturm im Wasserglas.«
»So kann er noch Stunden weitermachen.« Avasarala schaltete den Bildschirm ab. »Es gibt Dutzende wie ihn. Mars tut genau das Gleiche. Sie überfluten die Newsfeeds mit ihrer Version der Geschichte.«
»Beeindruckend.« Bobbie zog sich ein Stückchen von dem Schreibtisch zurück.
»So bleiben die Leute ruhig, und das ist das Wichtigste. Holden hält sich für einen Helden, alle Macht dem Volke, Informationen müssen frei fließen, blabla, aber er ist ein verdammter Idiot.«
»Er ist auf seinem eigenen Schiff.«
Avasarala verschränkte die Arme vor der Brust. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Er sitzt auf seinem eigenen Schiff, wir aber nicht.«
»Dann sind wir eben alle verdammte Idioten«, gab Avasarala zu. »Auch gut.«
Bobbie richtete sich auf und schritt im Raum hin und her. Sie machte ein ganzes Stück vor der Wand kehrt. Die Frau war daran gewöhnt, in kleineren Quartieren hin und her zu stürmen.
»Was soll ich nun damit anfangen?«, fragte Bobbie.
»Nichts«, antwortete Avasarala. »Was könnten Sie auch tun? Sie sitzen hier mit mir fest. Ich kann kaum etwas unternehmen, obwohl ich hochgestellte Freunde habe. Sie haben überhaupt nichts. Ich wollte nur mit jemandem reden, bei dem ich nicht jedes Mal zwei Minuten darauf warten muss, dass er mich unterbricht.«
Sie hatte es zu weit getrieben. Bobbies Miene veränderte sich, wurde äußerlich ganz ruhig, aber verschlossen und distanziert. Sie blockte innerlich ab. Avasarala ließ sich auf der Bettkante nieder.
»Das war nicht fair«, sagte Avasarala.
»Wie Sie meinen.«
»Und ob ich das meine.«
Die Marinesoldatin neigte den Kopf. »War das eine Entschuldigung?«
»Es war so nahe daran, wie es im Augenblick
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