Calibans Krieg
überhaupt zu erwarten ist.«
In Avasaralas Kopf klickte es. Es hatte weder mit der Venus noch mit James Holdens einsamem und heldenhaftem Kampf zu tun, auch nicht mit Errinwright. Es hatte mit Bobbie zu tun, die übermüdet und rastlos hin und her schritt. Endlich begriff sie es und lachte humorlos auf. Bobbie verschränkte die Arme vor der Brust und formulierte eine stumme Frage.
»Nein, es ist gar nicht lustig«, antwortete Avasarala.
»Versuchen Sie’s doch.«
»Sie erinnern mich an meine Tochter.«
»Wirklich?«
Sie hatte Bobbie verärgert, und jetzt musste sie sich erklären. Die Luftrecycler summten vor sich hin. Irgendwo tief im Innern der Jacht stöhnte etwas, als wären sie auf einem alten Segelschiff aus Holz und Pech.
»Mein Sohn starb, als er fünfzehn war«, begann Avasarala. »Beim Skifahren. Habe ich Ihnen das schon erzählt? Er war auf einem Hang, den er schon zwanzig- oder dreißigmal hinuntergefahren war. Er kannte sich aus, aber es ist irgendetwas passiert, und er ist gegen einen Baum geprallt. Man schätzte, er sei beim Aufprall ungefähr sechzig Stundenkilometer schnell gewesen. Manche Menschen überleben so einen Aufprall, aber er nicht.«
Einen Moment lang war sie wieder dort in dem Haus, als ihr der Arzt auf dem Bildschirm die Nachricht übermittelte. Sie roch immer noch den Weihrauch, den Arjun abgebrannt hatte, und hörte die Regentropfen wie Fingerspitzen an die Fenster trommeln. Es war die schlimmste Erinnerung, die sie hatte, und sie war völlig scharf und klar. Bebend atmete sie tief ein.
»Im Laufe der nächsten sechs Monate hätte ich mich beinahe dreimal scheiden lassen. Arjun war ein Heiliger, aber sogar die haben ihre Grenzen. Wir haben uns wegen allem und nichts gestritten. Jeder hat sich selbst die Schuld daran gegeben, Charanpal nicht gerettet zu haben, und wir konnten es nicht ertragen, wenn der andere die Verantwortung für sich beanspruchen wollte. Darunter hat natürlich meine Tochter am meisten gelitten. Eines Abends waren Arjun und ich ausgegangen. Wir kehrten spät nach Hause zurück und hatten uns gestritten. Ashanti stand in der Küche und wusch das Geschirr ab. Sie wusch die Teller mit der Hand und schrubbte sie mit einem Tuch und diesem schrecklichen Scheuermittel ab. Die Finger bluteten schon, aber sie bemerkte es gar nicht. Ich wollte sie davon abbringen und sie wegziehen, aber sie schrie und wollte nicht aufhören, bis ich sie weiter abwaschen ließ. Ich war so wütend, dass ich die Wahrheit nicht erkennen konnte. Ich hasste meine Tochter. In diesem Augenblick habe ich sie gehasst.«
»Und wie genau erinnere ich Sie an Ihre Tochter?«
Avasarala machte eine ausholende Geste – das Bett mit der echten Leinenbettwäsche, die Strukturtapeten an den Wänden, die mit Duftstoffen versetzte Luft.
»Sie gehen keine Kompromisse ein. Sie können die Dinge nicht so sehen, wie ich sie beschreibe, und wenn ich Sie dazu zwingen will, gehen Sie weg.«
»Wollen Sie das?«, fragte Bobbie. Ihre Stimme klang etwas heller und energischer. Es war Wut, die zugleich ihre Präsenz verstärkte. »Ich soll allem zustimmen, was Sie sagen, und wenn nicht, hassen Sie mich dafür?«
»Natürlich sollen Sie widersprechen, wenn ich Unsinn von mir gebe. Dafür bezahle ich Sie schließlich. Ich hasse Sie nur einen kleinen Augenblick lang«, erklärte Avasarala. »Ich liebe meine Tochter sehr.«
»Das glaube ich gern, Madam. Ich bin aber nicht sie.«
Avasarala seufzte.
»Ich habe Sie nicht hereingerufen und Ihnen all dies gezeigt, weil mir die Zeitverzögerung auf die Nerven geht. Ich mache mir Sorgen. Verdammt, ich habe Angst.«
»Warum?«
»Wollen Sie eine Liste haben?«
Bobbie lächelte jetzt sogar, und Avasarala erwiderte das Lächeln.
»Ich habe Angst, dass ich längst kaltgestellt bin«, erklärte sie. »Ich habe Angst, dass ich die Falken und ihre Intrigen nicht mehr aufhalten kann, ehe sie ihr schönes neues Spielzeug einsetzen. Und … ich habe Angst, dass ich mich irre. Was wird passieren, Bobbie? Was wird geschehen, wenn das, was da auf der Venus umgeht, sich erhebt und feststellt, dass wir zerstritten, erledigt und hilflos sind, wie es ja im Moment tatsächlich der Fall ist?«
»Das weiß ich nicht.«
Avasaralas Terminal zirpte. Sie blickte auf die neue Botschaft. Eine Nachricht von Admiral Souther. Avasarala hatte ihm eine völlig unschuldige Anfrage geschickt, ob sie zusammen essen könnten, sobald sie beide wieder auf der Erde wären, und sie dann mit einem
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