Calibans Krieg
erwartet. Avasaralas Blick irrte ab. Das alles war ihr im Grunde egal.
Das hätte es nicht sein dürfen. Dies war wichtig, wahrscheinlich wichtiger als alles andere, was geschah. Doch genau wie Errinwright, Nguyen und alle anderen war sie vollauf mit diesem kleinen menschlichen Krieg, mit dem Ringen um Einfluss und mit der Aufteilung der Macht zwischen Erde und Mars beschäftigt. Auch die äußeren Planeten hatten dabei mitzureden, wenn man sie denn ernst nehmen wollte.
An diesem Punkt machte sie sich sogar größere Sorgen um Bobbie und Cotyar als um die Venus. Cotyar war ein guter Mann, und seine Einwände hatten sie verletzt und wütend gemacht. Bobbie erweckte den Eindruck, als könnte sie bald zerbrechen. Das war verständlich. Die Frau hatte ihre Freunde sterben sehen. Nun fehlte ihr der alte Zusammenhalt, und sie arbeitete sogar für den alten Erzfeind. Die Raummarine war in mehr als einer Hinsicht eine harte Schule, und es war ein großer Vorteil, jemanden im Team zu haben, der auf der Erde keinerlei Bindungen und Verpflichtungen hatte. Besonders nach diesem verdammten Soren.
Sie lehnte sich im Sessel zurück und registrierte gereizt, wie anders sich es anfühlte, wenn sie so wenig wog. Das Erlebnis mit Soren schmerzte immer noch. Nicht der Verrat an sich; so etwas war Berufsrisiko. Wenn sie auf so etwas verletzt reagierte, war es tatsächlich Zeit, in den Ruhestand zu gehen. Nein, es war die Tatsache, dass sie es nicht bemerkt hatte. Sie hatte sich einen blinden Fleck erlaubt, und Errinwright hatte ihn zu nutzen verstanden. Er hatte sie an den Rand gedrängt. Sie mochte es nicht, wenn man sie derart übertölpelte. Das Schlimmste war, dass ihr Fehler noch mehr Krieg, noch mehr Gewalt und noch mehr tote Kinder nach sich ziehen würde.
Das war der Preis, wenn man Mist gebaut hatte. Noch mehr tote Kinder.
Sie wollte nie wieder Mist bauen.
Vor ihrem inneren Auge erschien Arjun, der sie mit sanfter Sorge betrachtete. Du bist nicht für alles verantwortlich, sagten die Augen.
»Jeder ist verantwortlich«, antwortete sie ihm laut. »Aber ich bin diejenige, die es ernst nimmt.«
Sie lächelte und fragte sich, was Maos Überwachungsanlagen und Spione damit anfangen würden. Sie stellte sich vor, wie sie ihr Zimmer nach einem versteckten Sendegerät durchsuchten, um herauszufinden, mit wem sie gesprochen hatte. Oder sie dachten einfach nur, die alte Dame sei meschugge geworden.
Sollten sie sich doch den Kopf zerbrechen.
Sie schloss den Bericht über die Venus. Unterdessen war eine weitere Nachricht eingegangen. Sie betraf ein Thema, zu dem sie vertiefende Informationen angefordert hatte. Als sie die Zusammenfassung des Geheimdienstes las, zog sie die Augenbrauen hoch.
»Ich bin James Holden, und ich möchte Sie um Hilfe bitten.«
Avasarala beobachtete Bobbie, die ihrerseits den Bildschirm betrachtete. Die junge Frau wirkte zugleich erschöpft und ruhelos. Die Augen waren nicht so sehr blutunterlaufen, sondern eher ausgetrocknet. Wie Kugellager, denen die Schmiere fehlte. Hätte man ein Beispiel gebraucht, um den Unterschied zwischen schläfrig und müde zu beschreiben, dann hätte man sie dafür nehmen können.
»Demnach ist er entkommen«, sagte Bobbie.
»Er und sein kleiner Botaniker und die ganze verdammte Crew«, stimmte Avasarala zu. »Da hätten wir also eine Story über die Ereignisse auf Ganymed, die vielleicht erklärt, warum Ihre und unsere Jungs sich so furchtbar aufgeregt und aufeinander geschossen haben.«
Bobbie sah sie an.
»Glauben Sie denn, es ist wahr?«
»Was ist die Wahrheit?«, antwortete Avasarala. »Holden ist bekannt dafür, möglichst lautstark alles herauszuplappern, was er zu wissen glaubt. Ob wahr oder nicht, er glaubt es jedenfalls.«
»Und der Teil über das Protomolekül? Ich meine, er hat im Grunde dem ganzen System mitgeteilt, dass auf Ganymed das Protomolekül ausgebrochen ist.«
»Das hat er getan.«
»Die Leute müssen doch irgendwie darauf reagieren, oder?«
Avasarala wählte die Geheimdienstberichte und dann die Feeds von den Unruhen auf Ganymed aus. Dünne, verängstigte Menschen, erschöpft von der Tragödie und vom Krieg, aufgestachelt von der Panik. Es war zu erkennen, dass die gegen sie aufgebotenen Sicherheitskräfte versuchten, möglichst behutsam vorzugehen. Es waren keine Ganoven, die sich darüber freuten, Gewalt anwenden zu können. Dies waren Krankenpfleger, die versuchten, die erschütterten, sterbenden Menschen daran zu hindern, sich selbst und
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