Calibans Krieg
helfen. Dr. Strickland von der Unterstützungsgruppe wurde vermisst. Die Krankenschwester Abuakár war tot.
Die anderen Familien aus der Gruppe hatten ihre eigenen Tragödien zu bewältigen. Mei war nicht das einzige vermisste Kind. Katoa Merton. Gabby Solyuz. Sandro Ventisiete. Seine eigene Angst und Verzweiflung spiegelte sich in den Gesichtern der anderen Eltern. Ihnen zu begegnen tat noch mehr weh, als Leichen zu betrachten, denn dabei war es unmöglich, die Angst zu verdrängen.
Er machte trotzdem weiter.
Basia Merton – Katoa-Daddy, wie Mei ihn nannte – war ein stiernackiger Mann, der immer nach Pfefferminz roch. Seine Wohnung war fünf Stockwerke unter der Oberfläche und sechs Kammern von der Wasseraufbereitung entfernt. Die Räume waren mit Seidentüchern und Bambus geschmückt. Als Basia die Tür öffnete, lächelte er nicht und sagte nicht »Hallo«, sondern drehte sich nur um, ging hinein und ließ die Tür offen stehen. Prax folgte ihm.
Am Tisch schenkte Basia Prax ein Glas Milch ein. Wunderbarerweise war sie noch nicht verdorben. Es war Prax’ fünfter Besuch, seit er Mei vermisste.
»Immer noch nichts?«, fragte Basia. Eigentlich war es gar keine Frage.
»Nichts Neues«, antwortete Prax. »Damit wäre das also geklärt.«
In den hinteren Räumen schrie ein Mädchen wütend auf, dann war die Stimme eines kleineren Jungen zu hören. Basia drehte sich nicht einmal um.
»Hier gibt es auch nichts Neues, tut mir leid.«
Die Milch schmeckte wundervoll und glitt ihm cremig und weich über die Zunge. Prax spürte fast, wie der Mund die Kalorien und Nährstoffe aufnahm. Wenn man es genau betrachtete, war er dem Verhungern nahe.
»Es besteht noch Hoffnung«, behauptete Prax.
Basia schnaufte, als hätte er einen Hieb in den Bauch bekommen. Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und starrte den Tisch an. Das Geschrei in Hinterzimmer hörte auf, jetzt war nur noch eine weinerliche Jungenstimme zu hören.
»Wir gehen weg«, erklärte Basia. »Mein Vetter arbeitet auf Luna für Magellan Biotech. Sie schicken Versorgungsschiffe, und wenn sie die Medikamente abgeladen haben, ist Platz für uns. Es ist alles schon besprochen.«
Prax stellte das Glas Milch weg. In den Kammern ringsum schien es still zu werden, aber das war eine Illusion. Ein seltsamer Druck baute sich in der Kehle auf und griff auf den Oberkörper über. Sein Gesicht fühlte sich wächsern an. Auf einmal erinnerte er sich, wie seine Frau die Scheidung eingereicht hatte. Verraten. Er fühlte sich verraten.
»… sind es nur noch ein paar Tage«, sagte Basia. Er hatte geredet, aber Prax hatte nicht zugehört.
»Was ist denn mit Katoa?«, quetschte Prax trotz des Kloßes im Hals heraus. »Er ist doch irgendwo.«
Schnell wie ein Flügelschlag hob Basia den Blick und starrte danach ins Leere.
»Ist er nicht. Er ist fort, Bruder. Der Junge hatte dort, wo das Immunsystem hätte sein sollen, einen Sumpf. Das weißt du doch. Ohne seine Medikamente geht es ihm nach drei oder höchstens vier Tagen sehr schlecht. Ich muss mich um die beiden Kinder kümmern, die noch da sind.«
Prax nickte. Sein Körper reagierte ganz ohne sein Zutun. Es fühlte sich an, als hätte sich irgendwo im Hinterkopf ein Schwungrad aus der Verankerung gelöst. Die Maserung des Bambustischs kam ihm unnatürlich rau vor. Die Milch schmeckte auf einmal sauer.
»Das kannst du nicht wissen.« Er bemühte sich, leise zu sprechen. Es gelang ihm nicht richtig.
»Und ob ich das weiß.«
»Wer … wer auch immer Mei und Katoa verschleppt hat, tot nützen ihm die Kinder nichts. Sie wussten es. Sie haben doch sicher gewusst, dass die Kinder Medikamente brauchen. Deshalb ist es nur vernünftig anzunehmen, dass man sie irgendwo hingebracht hat, wo sie die Mittel bekommen.«
»Niemand hat sie verschleppt, Bruder. Sie sind verloren gegangen. Irgendetwas ist passiert.«
»Meis Lehrerin hat gesagt …«
»Meis Lehrerin hatte Todesangst. Ihre ganze Welt bestand daraus, darauf aufzupassen, dass die Kinder sich nicht zu oft gegenseitig anspucken, und auf einmal hat es vor ihrem Klassenzimmer eine Schießerei gegeben. Wer weiß schon, was sie wirklich gesehen hat?«
»Sie sagte, es seien Meis Mutter und ein Arzt gewesen. Sie sagte, ein Arzt …«
»Ach, hör doch auf, Mann. Sie wären nicht nützlich, wenn sie tot sind? Auf dieser Station gibt es haufenweise tote Menschen, die alle irgendwie mal nützlich waren. Hier herrscht Krieg. Die Idioten haben einen Krieg
Weitere Kostenlose Bücher