Calibans Krieg
Flüchtlingen, sogar diejenigen, die hier geboren waren.
Vor einigen Tagen hatten die marsianischen und irdischen Streitkräfte die Kampfhandlungen eingestellt und sich hinter ihre jeweiligen Linien zurückgezogen. Zwischen ihnen lag jetzt eine Einöde, die den äußeren Planeten früher als Kornkammer gedient hatte, und die Verantwortlichen der Station kümmerten sich nur noch um eine einzige Aufgabe: so schnell wie möglich verschwinden.
Zunächst hatten die streitenden Militärkräfte die Raumhäfen blockiert, doch seit sie die Oberfläche verlassen hatten und in die sicheren Schiffe zurückgekehrt waren, griffen auf der Station Panik und Angst ungehemmt um sich. Die wenigen Passagierschiffe, die starten durften, waren voller Menschen, die dringend fortkommen wollten. Die Ticketpreise ruinierten sogar die Wohlhabenden, die jahrelang auf hoch dotierten Posten gearbeitet hatten, und den ärmeren Einwohnern blieb nichts anderes übrig, als mit Frachtdrohnen oder winzigen Jachten zu fliehen oder sich sogar in Raumanzügen an Gerüste zu ketten und sich in der Hoffnung, dort gerettet zu werden, in Richtung Europa zu katapultieren. Die Panik trieb sie dazu, immer größere Risiken einzugehen, bis sie irgendwo anders oder im Grab waren. In der Nähe der Wachen, in der Nähe der Raumhäfen, sogar in der Nähe der verlassenen militärischen Absperrungen, die Mars und Erde eingerichtet hatten, waren die Korridore voller Menschen, die nach irgendetwas suchten, das sie als Sicherheit bezeichnen konnten.
Prax wünschte sich, er wäre einer von ihnen.
Stattdessen war in seiner Welt ein neuer Rhythmus entstanden. Er wachte jeden Morgen in seinen Räumen auf, denn er ging jeden Abend heim, weil er hoffte, Mei werde zurückkehren. Er aß, was immer er fand. In den beiden letzten Tagen hatte er in seinem privaten Lager nichts mehr entdeckt, aber einige Zierpflanzen in den Grünanlagen waren genießbar. Er war sowieso nicht sehr hungrig.
Dann überprüfte er die Todesfälle.
In der ersten Woche hatte das Krankenhaus in einer Endlosschleife die geborgenen Toten gezeigt, um deren Identifizierung zu erleichtern. Danach hatte er sich die Leichen persönlich ansehen müssen. Er suchte ein Kind, deshalb musste er die meisten Opfer nicht genauer betrachten, aber diejenigen, die er sah, ließen ihn nicht mehr los. Zweimal fand er verstümmelte Körper, bei denen es sich um Mei hätte handeln können, doch das erste Kind hatte einen Storchenbiss, und bei dem zweiten stimmte die Form der Zehennägel nicht überein. Diese toten Mädchen waren die Tragödien anderer Menschen.
Sobald er sich vergewissert hatte, dass Mei nicht zu den Opfern zählte, begab er sich auf die Suche. Am ersten Abend nach ihrem Verschwinden hatte er sein Handterminal herausgeholt und sich eine Liste gemacht. Menschen, die Macht besaßen und mit denen er Verbindung aufnehmen konnte: Wachleute, Meis Ärzte, die Krieg führenden Armeen. Menschen, die vielleicht Informationen hatten: die Eltern der anderen Kinder in der Vorschule, die Teilnehmer der medizinischen Selbsthilfegruppe, Meis Mutter. Lieblingsplätze, an denen er nachsehen wollte: die Wohnung ihrer besten Freundin, die Parks, die sie am liebsten mochte, der Süßigkeitenladen mit der Zitronenbrause, die sie so gern trank. Orte, an denen man möglicherweise Sex mit einem verschleppten Kind kaufen konnte: eine Liste mit Bars und Bordellen, die er aus einem älteren Wegweiser der Station zusammengestellt hatte. Die aktuelle Version befand sich im System, das jedoch immer noch gesperrt war. Jeden Tag besuchte er so viele Orte, wie er nur konnte, und als er durch war, begann er wieder von vorne.
Aus der Liste entwickelte sich ein Fahrplan. Jeden zweiten Tag waren die Sicherheitskräfte an der Reihe, an den Tagen dazwischen die Angehörigen der marsianischen Truppen oder der UN-Streitkräfte, die bereit waren, mit ihm zu reden. Meis beste Freundin und ihre Familie waren geflohen, also musste er dort nicht mehr nachsehen. Der Süßigkeitenladen war bei einem Krawall zerstört worden. Am schwierigsten war es, die Ärzte zu finden. Dr. Astrigan, ihre Kinderärztin, hatte besorgte Laute von sich gegeben und versprochen, sich bei ihm zu melden, falls sie etwas hörte. Als er drei Tage später noch einmal bei ihr vorsprach, stellte sich heraus, dass sie sich nicht einmal mehr an seinen ersten Besuch erinnerte. Der Chirurg, der nach ihrer ersten Diagnose die Abszesse an der Wirbelsäule behandelt hatte, konnte nicht
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