Calibans Krieg
dachte, nur in den Augenwinkeln funkelte es ein wenig, weil er sie durchschaut hatte. Sie musste grinsen.
»Ich mag keine Klugscheißer«, sagte sie. Der Aufzug hielt an, die Türen glitten auf.
Jules-Pierre Mao saß vor ihrem Schreibtisch und strahlte große Gelassenheit und eine leichte Belustigung aus. Avasarala betrachtete ihn und nahm die Details zur Kenntnis: der gut geschnittene Seidenanzug, dessen Farbe irgendwo zwischen Beige und Grau lag, der zurückweichende Haaransatz, der nicht durch kosmetische Eingriffe verändert war, die strahlend blauen Augen, mit denen er vermutlich zur Welt gekommen war. Er trug sein Alter wie ein Statement, das dem Zahn der Zeit trotzte, und als sei die Sterblichkeit unter seiner Würde. Vor zwanzig Jahren hätte er blendend ausgesehen. Jetzt sah er immer noch gut aus und besaß außerdem eine gewisse Würde. Ihr erster animalischer Impuls war der dringende Wunsch, ihm zu gefallen.
»Mister Mao.« Sie nickte ihm zu. »Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.«
»Ich habe schon öfter mit Regierungsstellen zusammengearbeitet«, entgegnete er mit einem europäischen Akzent, der Butter schmelzen konnte, »und habe vollstes Verständnis für Ihre Situation. Was kann ich für Sie tun, Stellvertretende Untergeneralsekretärin?«
Avasarala ließ sich auf ihrem Bürostuhl nieder. Der Buddha lächelte sie von seinem Platz in der Ecke verklärt an. Der Regen prasselte auf das Fenster, und die Schatten erzeugten den Eindruck, als weinte Mao. Sie legte die Fingerspitzen aneinander.
»Möchten Sie einen Tee?«
»Nein, danke«, lehnte Mao ab.
»Soren! Besorgen Sie mir einen Tee.«
»Ja, Madam«, antwortete der Untergebene.
»Soren.«
»Madam?«
»Es eilt nicht.«
»Selbstverständlich, Madam.«
Er zog die Tür hinter sich zu. Mao lächelte müde.
»Hätte ich meine Anwälte mitbringen sollen?«
»Diese Wadenbeißer? Nein«, antwortete sie. »Die Gerichtsverfahren sind beendet. Ich will nicht irgendwelche juristischen Auseinandersetzungen beginnen. Ich habe echte Arbeit zu erledigen.«
»Das kann ich verstehen«, erklärte Mao.
»Ich habe ein Problem«, fuhr Avasarala fort. »Und ich weiß leider nicht, worin genau es besteht.«
»Glauben Sie denn, ich weiß es?«
»Das ist möglich. Ich habe viele Anhörungen zu verschiedenen Themen erlebt. Meist ging es den Teilnehmern nur darum, sich nichts am Zeug flicken zu lassen. Wenn jemals die unverfälschte Wahrheit ans Licht kam, dann lag es nur daran, dass jemand einen dummen Fehler gemacht hat.«
Der Konzernchef kniff die hellblauen Augen zusammen. Das Lächeln war nicht mehr ganz so freundlich.
»Glauben Sie, meine Angestellten und ich waren nicht völlig offen? Ich habe für Sie mächtige Männer ins Gefängnis gebracht, Stellvertretende Untergeneralsekretärin. Ich habe hinter mir Brücken abgebrochen.«
In der Ferne grollte und zürnte der Donner. Der Regen verdoppelte seine Anstrengungen und prasselte wütend auf die Scheibe. Avasarala verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das haben Sie getan. Aber Sie sind kein Idiot. Es gibt Dinge, die Sie unter Eid bezeugt, und andere Dinge, um die Sie sich herumgewunden haben. Dieser Raum wird nicht abgehört. Dies ist inoffiziell. Ich muss alles wissen, was Sie mir über das Protomolekül sagen können. Alles, was bei den Anhörungen nicht zur Sprache gekommen ist.«
Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich. Sie beobachtete sein Gesicht, seine Körpersprache, und forschte nach Hinweisen, doch der Mann war undurchschaubar. Er war schon viel zu lange in diesem Geschäft, und er war gut darin. Ein Profi.
»Manchmal gehen Dinge unter«, erklärte Avasarala. »Während der Finanzkrise haben wir einmal eine ganze Revisionsabteilung gefunden, an die sich niemand erinnern konnte. So läuft das. Sie nehmen einen Teil eines Problems, bringen es irgendwo unter und lassen ein paar Leute daran arbeiten, und dann nehmen Sie einen anderen Teil des Problems und setzen andere Leute darauf an. Bald haben Sie sieben, acht oder einhundert kleine Kästchen, in denen gearbeitet wird, aber niemand redet mit den Nachbarn, weil niemand die Verschwiegenheitsverpflichtung brechen darf.«
»Und Sie glauben …«
»Wir haben Protogen erledigt, und Sie haben dabei geholfen. Ich frage Sie, ob Sie von irgendwelchen kleinen Kästchen wissen, die noch irgendwo herumliegen. Und ich hoffe sehr, dass Sie ›Ja‹ sagen.«
»Kommt dies vom Generalsekretär oder von Errinwright?«
»Von keinem der beiden,
Weitere Kostenlose Bücher