Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
viele Dinge sagen können oder sollen, aber mein eigenes Wissen über die Kindersterblichkeitsstatistiken, das tiefe Verständnis, das aus ihren Worten sprach, und die Trauer in ihren Augen ließen mich schweigen.
Ich sagte nur: »Wird Mary je erfahren, wer ihr Baby adoptiert hat?«
Die Oberin schüttelte den Kopf.
»Nein. Noch nicht einmal ich kenne den wirklichen Namen. Er wird auch keiner der Schwestern je bekannt gegeben. Die Adoption verläuft völlig anonym, aber ich kann Ihnen versichern, dass Marys Baby von einer guten katholischen Familie aufgenommen wurde und dass sie ein gutes Zuhause haben wird.«
Es gab nichts weiter zu sagen und die Oberin erhob sich von ihrem Stuhl. Es war das Zeichen, dass unser Gespräch beendet war. Sie zog ihre rechte Hand hinter dem Skapulier hervor und hielt sie mir hin. Lange, schlanke, feinfühlige Finger. Solch schöne Hände sieht man nicht oft, und als ich sie ergriff, spürte ich ihren festen, warmen Händedruck. Wir sahen uns in die Augen und neben unserer Traurigkeit spürte ich, so schien es mir, gegenseitigen Respekt.
Ich ging ins Wohnzimmer zurück. Mary sprang vom Sofa auf, als ich eintrat, und ihr Gesicht erstrahlte in froher Erwartung. Doch sofort hatte sie in meinem Ausdruck erkannt, wie es stand, und sie ließ sich mit einem verzweifelten Schrei zurück auf das Sofa fallen und vergrub ihr Gesicht wieder in den Kissen. Ich setzte mich neben sie und versuchte sie zu trösten, doch es gab keinen Trost für sie. Ich erzählte ihr, dass das Baby in eine gute Familie aufgenommen werde, wo man gut für es sorge. Ich versuchte ihr zu erklären, dass es ihr unmöglich sein würde, arbeiten zu gehen, um den Lebensunterhalt für sich und das aufwachsende Kind zu verdienen. Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas von dem, was ich sagte, hörte oder verstand. Ihr Gesicht blieb in den Kissen verborgen. Ich sagte ihr, ich müsse bald gehen, aber darauf reagierte sie nicht. Ich wollte ihr über das Haar streichen, aber sie stieß meine Hand wütend weg. Ich schlich mich aus dem Zimmer, schloss leise die Tür, denn ich war zu traurig, um auch nur Auf Wiedersehen sagen zu können.
Ich sah Mary nie wieder. Einmal schrieb ich ihr, erhielt aber keine Antwort. Einen Monat später schrieb ich der Oberin, um mich zu informieren, und erfuhr, dass Mary eine Stelle als Stationshilfe in einem Krankenhaus in Birmingham angenommen hatte. Auch dorthin schrieb ich ihr, aber wieder keine Antwort.
Die Umstände bringen Menschen zusammen und sie trennen sie auch wieder. Man kann nicht ein Leben lang mit jedem in Kontakt bleiben. Doch abgesehen davon: War das überhaupt echte Freundschaft zwischen mir und Mary? Wahrscheinlich nicht. Von ihr aus betrachtet war es vor allem eine Freundschaft der Abhängigkeit, während ich Mitgefühl und (ich schäme mich fast, es zuzugeben) Neugierde beisteuerte. Es faszinierte mich, mehr über die verborgene Welt der Prostitution zu erfahren. Das ist keine Basis für einen Austausch zwischen zwei Menschen oder für ehrliche Zuneigung, daher verfolgte ich den Kontakt nicht weiter.
Einige Jahre später – ich war inzwischen glücklich verheiratet und hatte zwei Kinder – berichteten alle Zeitungen mit Schlagzeilen auf den Titelseiten von einem Baby, das in einem Vorort von Manchester aus einem Kinderwagen entführt worden war. Verzweifelte, tränenüberströmte Eltern wurden im Fernsehen interviewt und bettelten, man möge ihnen ihr Baby zurückgeben. Im ganzen Land suchte die Polizei in einer groß angelegten Aktion und von überall her trafen Berichte ein, dass man den Entführer möglicherweise gesehen habe. Doch alle Meldungen erwiesen sich als falsch. Es vergingen zwölf Tage und die Story verschwand aus dem öffentlichen Interesse.
Am vierzehnten Tag las ich, dass eine Frau in Liverpool festgenommen worden war, die ein Schiff nach Irland besteigen wollte. Sie hatte ein sechs Wochen altes Baby bei sich und kam in Untersuchungshaft. Wenige Tage später war einem längeren Bericht zu entnehmen, dass die verhörte Frau der Entführung eines Babys zwei Wochen zuvor beschuldigt wurde. Auf dem Foto war Mary zu sehen.
Sie blieb fünf Monate in Untersuchungshaft und wartete auf ihren Prozess. Während der ganzen Zeit erwog ich, zu ihr zu fahren und sie zu besuchen, doch ich tat es nicht. Ich zögerte, zum Teil weil ich mich fragte, worüber in aller Welt wir uns denn unterhalten sollten, außerdem schien mir eine Fahrt nach Liverpool und zurück – zu welchem
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