Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
sagte sie: »Das Baby wird von einer guten römisch-katholischen Familie adoptiert, die bereits ein Kind hat. Aufgrund einer Krankheit kann die Mutter selbst keine weiteren bekommen. Marys Mädchen wird eine gute häusliche und schulische Erziehung erhalten. Sie wird alle Vorteile eines guten christlichen Umfelds genießen.«
»Gutes christliches Umfeld hin oder her«, sagte ich, denn mein Zorn wuchs. »Nichts kann die Liebe einer Mutter ersetzen und Mary liebt ihr Baby. Sie wird vor Kummer sterben oder wahnsinnig werden.«
Die Oberin betrachtete einen Moment lang ruhig den Ast eines Baumes, der sich am Fenster bewegte. Dann drehte sie langsam ihren Kopf und sah mir direkt in die Augen. Diese langsame, bewusste Bewegung ihres Kopfes hin zum Fenster und dann wieder zu mir zurück half mir, meinen Zorn in den Griff zu bekommen. Ihr Gesicht war traurig. Vielleicht ist sie gar nicht gnadenlos, dachte ich.
»Wir haben getan, was wir konnten, um Marys Familie zu erreichen. Wir haben drei Monate lang kirchliche und zivile Gemeinderegister in Irland durchsucht, ohne Erfolg. Marys Mutter ist eine Trinkerin und unerreichbar. Es gibt keine lebenden Onkel oder Tanten. Ihr Vater ist tot. Die jüngeren Geschwister sind in guter Obhut. Wenn wir einen Verwandten oder Vormund gefunden hätten, der Mary und ihr Baby aufgenommen und Verantwortung für die beiden übernommen hätte, dann hätten wir sicher alles in unserer Macht Stehende unternommen, damit sie das Baby behält. Doch wir konnten niemanden finden. Im übergeordneten Interesse des Babys wurde die Entscheidung getroffen, es zur Adoption freizugeben.«
»Aber es wird Mary umbringen«, sagte ich.
Die Oberin gab darauf keine Antwort, aber sie sagte: »Wie soll ein fünfzehnjähriges Mädchen, das nicht lesen und schreiben kann, ohne Zuhause und ohne Ausbildung außer in Prostitution ein Kind versorgen, ernähren und großziehen?«
Jetzt war es an mir, die Frage unbeantwortet zu lassen.
»Sie ist keine Prostituierte mehr«, sagte ich.
Wieder seufzte die Oberin und schwieg für eine lange Weile, bevor sie erneut das Wort ergriff. »Sie sind jung, meine Liebe, und erfüllt von gerechtem Zorn, was unser Herr liebt. Doch Sie müssen verstehen, dass es sehr, sehr selten ist, dass eine Prostituierte ganz von ihrem Gewerbe loskommt. Es ist zu leicht, um an Geld zu gelangen. Schnell ist die Lage eines Mädchens klamm, dann ist die Gelegenheit rasch zur Hand. Warum sich den ganzen Tag für fünf Shilling in einer Fabrik abmühen, wenn man in einer halben Stunde zehn oder fünfzehn Shilling verdienen kann? Wir wissen aus Erfahrung, dass nur weniges einem heranwachsenden Kind mehr schadet, als dabei zuzuschauen, wie Mutter auf der Straße anschaffen geht.«
»Aber Sie können sie doch nicht für etwas bestrafen, was sie noch gar nicht getan hat.«
»Nein. Wir bestrafen nicht und wir beschuldigen auch nicht. Die Kirche vergibt. Wenn eines klar ist, dann, dass man sich an Mary stärker versündigt hat als dass sie selbst sündig wurde. Unsere größte Sorge gilt jedoch dem Schutz und der Erziehung des Babys. Mary hat keinen Ort, an den sie gehen kann, wenn sie hier auszieht. Wer wird sie aufnehmen? Wir haben alles unternommen, um für Mary eine Stelle mit Unterbringung zu finden, aber angesichts des Babys war keine solche Stelle zu finden.«
Ich schwieg. Die Logik der Oberin war unanfechtbar. Ich wiederholte mein Argument: »Aber es wird sie umbringen. Sie wirkt jetzt schon halb verrückt.«
Die Oberin saß völlig still, Blätter regten sich draußen am Fenster. Sie sprach eine halbe Minute lang kein Wort. Dann sagte sie: »Wir sind in Leid, Ungewissheit und Tod hineingeboren. Meine Mutter hatte fünfzehn Kinder. Nur vier überlebten ihre Kindheit. Elfmal durchlebte meine Mutter die Leiden, die Mary nun durchmacht. Millionen von Frauen haben im Lauf der Geschichte die meisten Kinder, die sie austrugen, auch beerdigt und mussten die Qual ertragen, ein Kind zu verlieren. Sie haben es überlebt, so wie Mary es überleben wird, und sie haben weitere Kinder ausgetragen, so wie Mary hoffentlich auch weitere bekommen wird.«
Ich konnte nichts sagen. Vielleicht hätte ich über die Arroganz und die Anmaßung, die Entscheidung ohne Mary zu treffen, wüten und schimpfen können. Ich hätte mich über den Reichtum der katholischen Kirche herablassend äußern können. Ich hätte fragen können, warum die Kirche Mary und ihr Baby nicht ein paar Jahre lang unterstützen konnte. Ich hätte
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