Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
zu werden, entsprang keineswegs ihrer Fantasie.
Im achten Monat ihrer Schwangerschaft – sie war gerade einmal fünfzehn Jahre alt – wurde sie in ein Heim für Mütter überwiesen, das die katholische Kirche in Kent betrieb. Rund zwei Wochen bevor das Baby auf die Welt kam, fuhr ich einmal hin. Mary war aufgeregt und voller Vorfreude. Sie genoss die Gesellschaft der anderen Frauen und Mädchen, die keine Prostituierten waren, doch aus den ärmsten und prekärsten Schichten der Gesellschaft stammten. Viele hatten bereits Babys und Mary bewies größtes Geschick für die zärtlichsten und erfüllendsten Verrichtungen einer jungen Mutter. Die Nonnen erteilten Unterricht in Babypflege. Voll Freude badete sie Puppen und zog sie an, besuchte Vorträge über Koliken, wunde Popos und das Stillen und konnte es kaum erwarten, dass ihr Baby geboren wurde.
Am gleichen Morgen, an dem das Church House eine Postkarte erhielt, kam auch eine für mich an und verkündete die Geburt eines kleinen Mädchens: Kathleen. Ich vermutete, dass eine der Nonnen sie geschrieben hatte, denn ich wusste, dass Mary zwar ein wenig lesen, aber kaum schreiben konnte. Dennoch stand unten ihr Name in Großbuchstaben quer über die Postkarte, gefolgt von einer Reihe Küsschen. Diese gekritzelten Kreuzchen, es waren etwa fünfundzwanzig, rührten mich sehr und ich fragte mich, wem sie sonst noch ihre wunderbare Nachricht mit so vielen Küsschen übermittelt haben mochte. Ihrer Mutter? Ihren Geschwistern? Wusste sie, wo ihre alkoholkranke Mutter war oder ihre Schwestern in dem Dubliner Waisenhaus? Wenn sie eine Postkarte an die alte Adresse, soweit sie sich daran erinnerte, geschickt hatte, war sie angekommen oder war die Familie längst fortgezogen? Wusste jemand davon? Scherte sich überhaupt jemand darum? Mir kamen die Tränen, als ich die Reihe Kreuzchen betrachtete, Küsschen, mit denen sie so freigebig jemanden überschüttete, den sie einmal an einer Bushaltestelle kennengelernt hatte.
Wenig später fuhr ich an meinem freien Tag Mary in Kent besuchen, denn ich fand, dass sich jemand mit ihr über dieses wundervolle Ereignis freuen sollte. Während der Fahrt überlegte ich, dass es durchaus die Wende für ihr Leben bedeuten konnte. Mutter zu sein fördert in den meisten Frauen ihre besten Eigenschaften zutage und aus flatterhaften, unzuverlässigen Mädchen werden oft verantwortungsbewusste, verlässliche Mütter. Mir war klar, dass sie zwar ein liebevolles junges Wesen war, aber eine sehr vertrauensselige Ader hatte. Ich dachte, dass es an ihrem freundlichen, jedem Menschen vertrauenden Wesen lag, dass sie überhaupt erst in die Prostitution geraten war. In jedem Fall hatte sie dieses Metier gehasst und genau genommen das Leben einer Sklavin geführt. Nun war sie frei.
Der Zug ratterte gemütlich quer über das Land und ich spürte, wie mich eine sanfte Welle der Zufriedenheit und der Freude überkam. Ich hatte jedoch nicht darüber nachgedacht, wie sie sich und das Baby über Wasser halten sollte.
Ich traf eine Mary an, die vor Glück strahlte. Eine sanfte Wärme, wie sie viele Mütter in den ersten Wochen verbreiten, ging von ihr aus und umfing mich geradezu, als ich durch die Tür trat. Zwei Monate Ruhe, gute Ernährung und eine gute Schwangerenvorsorge hatten Wunder gewirkt. Keine Spur mehr von dem blassen, verkniffenen Gesicht, keine Spur mehr von den nervösen Gesten – und vor allem war die Angst aus ihren Augen gewichen. Sie war sich nicht bewusst, wie schön sie war, das machte sie umso anziehender. Und das Baby? Selbstverständlich ist jedes Baby das wunderschönste auf der ganzen Welt, aber dieses kleine Wesen übertraf alle anderen locker! Kathleen war zehn Tage alt und Mary erzählte mir in allen Einzelheiten, wie wunderbar sie war: wie gut sie schlief, wie gut sie trank, wie sie gluckste, lachte und strampelte. Sie schnatterte voller Freude drauflos, ganz abgetaucht in ihre allumfassende Liebe. Als ich mich verabschiedete, dachte ich, dass es das Beste war, was ihr hatte passieren können, und was für ein schönes neues Leben sich Mary öffnete.
Etwa zwei Wochen später kam eine Postkarte:
SCHWESDER JENY
NONATUN HOUS
POPLER LUNDUN
Es ist das große Verdienst unserer Post, dass sie überhaupt ankam, denn abgesehen von der Adresse fehlte die Briefmarke. Auf der Rückseite stand in krakeligen Buchstaben:
BABY WECK. KOM MICH BESUCHN. MARY XXXXXX .
Besorgt zeigte ich die Karte Schwester Julienne.
»Heißt WECK etwa weg?
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