Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Geschichte von dem Kerl zum Besten gab, der vom Donnerbalken gefallen war und eine goldene Uhr gefunden hatte. Toilettenwitze galten damals in der Arbeiterschicht nicht als vulgär oder unanständig, denn die natürlichen Körperfunktionen waren Teil des öffentlichen Lebens. Privatsphäre gab es nicht. Die Toiletten, die sich ein Dutzend oder mehr Familien im Hof teilten, hatten Türen, bei denen man oben und unten hindurchsehen konnte. Es wusste also jeder, wer gerade drin war, und man konnte alles hören und vor allem alles riechen. »Sie ist ein Stinktier« war keine moralische Bewertung, sondern eine sachliche Aussage.
Auch Schwester Evangelina hatte einen Sinn für diesen rustikalen Humor. So etwa vor einem Einlauf: »Vatter, du bekommst jetzt ein Klistier in den Arsch, also mach deine Innereien mal schön locker. Halt schon mal den Pott bereit, Mutter, und die Wäscheklammern für die Nase.« Dann wurde darüber gelacht, dass er schon seit zwei Wochen nicht mehr »gemusst« hatte und dass da ein echter Elefantenhaufen drinstecken musste. Und keiner wurde auch nur ein kleines bisschen rot dabei, am wenigsten der Patient.
Nein, Schwester Evangelina war gar nicht humorlos. Das Problem bestand darin, dass ihr Humor sich von dem aller anderen im Nonnatus House unterschied. Rings um sie galten die Werte der Mittelschicht mitsamt ihrem gemeinsamen Sinn für Humor, und auf den hatte sie keinen Zugriff. Sie verstand die Witze ihrer Mitschwestern ganz einfach nicht, daher achtete sie immer darauf, wann die anderen gemeinsam lachten, um dann eher halbherzig mitzulachen.
Im Gegenzug wiederum wäre ihr ganz eigener Humor im Kloster mit Sicherheit nicht gut angekommen. Ja, man wäre ihm mit entschiedener Ablehnung begegnet. Vielleicht hatte sie ihn in der Vergangenheit zum Besten gegeben und ihre Oberin hatte ihr auferlegt, wegen ungezügelter Rede Buße zu tun, worauf sich die junge Novizin fortan verschloss und sich nach außen streng und ernsthaft gab. Nur vor ihren Patienten in den Docklands konnte sie ganz sie selbst sein.
Sogar in ihrer Sprache glitt sie manchmal aus dem Mittelschichtsakzent, den sie sich über die Jahre angeeignet hatte, in eine Annäherung an den Cockneydialekt. Sie sprach niemals breites Cockney – zu einer solch gewollten Nachahmung wäre sie nicht in der Lage gewesen –, doch manche Redewendungen und sprachlichen Figuren lagen ihr sehr. So benutzte sie »pew-monica« für pneumonia (Lungenentzündung), »Uncle Dick« für a bit sick (leichte Übelkeit) oder »a touch of the inkey blue« für flu (Grippe) * . Offenbar verstand sie auch viele Begriffe des cockneytypischen Reimslang, auch wenn sie ihn selbst nicht häufig benutzte. Gerade erinnere ich mich wieder daran, wie ich sie einmal völlig verdattert anstarrte, als sie mich gebeten hatte, ihr ihr »Wiesel« zu holen, weil ich nicht zu fragen wagte, was sie meinte. Jemand anderes holte ihr ihren Mantel. **
Wie die älteren Leute hatte sie selbst Angst vor dem Krankenhaus und diese Angst teilte sich häufig durch Spott und Schimpfen mit. Die meisten Krankenhäuser waren, selbst in den 1950er-Jahren noch, in den Gebäuden alter Armenhäuser untergebracht. Schon aus diesem Grund verströmten sie für Menschen, denen ihr Leben lang das Arbeitshaus gedroht hatte, eine Aura der Erniedrigung und des Todes. Schwester Evangelina versuchte den Patienten diese Angst vor Krankenhäusern keineswegs auszureden, ja, sie bestätigte sie sogar darin – eine Haltung, der das Royal College of Nursing sicher mit allen Mitteln entgegengetreten wäre, hätte man dort davon erfahren. So sagte sie etwa: »Du willst doch nicht ins Krankenhaus, wo die ganzen Studenten an dir rummachen«, oder: »Die geben sich doch mit der Behandlung der Armen nur ab, soweit die Reichen davon profitieren.« Zwischen den Zeilen bedeutete beides, dass Krankenhäuser gerne an ihren armen Patienten experimentierten. Sie wollte selbst miterlebt haben, dass Frauen, die nach einer Hinterzimmerabtreibung mit Komplikationen ins Krankenhaus gegangen waren, das Leben absichtlich schwer gemacht worden sei. Für die Wahrheit dieser Behauptung spricht, dass Schwester Evangelina unfähig war, etwas zu erfinden oder auch nur zu übertreiben. Ob ein solcher Umgang in England Anfang des vergangenen Jahrhunderts verbreitet war, kann ich nicht sagen, weiß jedoch aus meiner Zeit in einem Pariser Krankenhaus Mitte der 1950er-Jahre, welch traurige Wahrheit aus ihren Worten sprach.
Schwester
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