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Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Titel: Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Worth
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Evangelina pflegte einen Schatz persönlicher Weisheiten, an denen sie ihre Patienten teilhaben ließ: »Wo immer ’s auch sei, lass deinen Wind ruhig frei«, worauf die Antwort stets erklang: »In Kirchen und Hallen lass ihn erschallen.« Einmal fügte ein alter Mann hinzu: »Huch!, tschuldigung, Schwester, nicht bös gemeint«, und sie erwiderte: »Keine Angst – ich bin mir sicher, dass auch der Pfarrer so was macht.« Verstopfung und Durchfall, Pipilette, flotter Otto und Flitzkacke sorgten regelmäßig für gute Laune und immer war Schwester Evangelina mittendrin. Nach meinem anfänglichen Schock wurde mir klar, dass nichts davon als vulgär oder obszön empfunden wurde. Wenn der König von Frankreich täglich vor versammeltem Hofstaat seinen Darm entleerte, warum dann nicht auch die Cockneys? Sexuelle Obszönitäten und Blasphemie hingegen waren unter den anständigen Familien von Poplar tabu, man erwartete eine korrekte Sexualmoral und half ihr gelegentlich nach.
    Doch ich schweife ab. Schwester Evangelina faszinierte mich, weil ich wusste, woher sie kam: aus den Elendsvierteln in Reading Ende des neunzehnten Jahrhunderts, von wo sie den Aufstieg aus größter Armut und weitreichendem Analphabetismus bis hin zu einer ausgebildeten Krankenschwester und Hebamme geschafft hatte. Schon für einen jungen Mann wäre es schwer gewesen, aus Unbildung und Armut auszubrechen, um sich in einem Mittelstandsberuf zu etablieren, aber für ein Mädchen war es geradezu außerordentlich. Es brauchte einen besonders starken Charakter, um so etwas zu erreichen.
    Ich fand heraus, dass der Erste Weltkrieg für sie den Schlüssel zur Freiheit bedeutet hatte. Sie war sechzehn, als der Krieg ausbrach, und hatte seit ihrem zwölften Lebensjahr in der Readinger Keksfabrik Huntley and Palmer’s gearbeitet. 1914 tauchten überall in der Stadt Plakate auf, die die Leute aufriefen, ihren Beitrag zu den Kriegsanstrengungen zu leisten. Sie hasste Huntley and Palmer’s und beschloss in ihrem jugendlichen Optimismus, dass eine Munitionsfabrik nur eine Verbesserung darstellen konnte. Sie musste von zu Hause ausziehen, denn die Fabrik lag sieben Meilen entfernt – zu weit zum Laufen, wenn man von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends arbeiten muss. Als Unterkunft wurden den Mädchen und Frauen Schlafsäle mit sechzig oder siebzig schmalen Eisenbetten und Pferdehaarmatratzen bereitgestellt. Die junge Evie hatte noch nie zuvor allein in einem eigenen Bett geschlafen und hielt das Ganze für eine wahrhaft gehobene Unterkunft. Den Arbeiterinnen wurden Uniform und Schuhe gestellt, und da sie bislang nur Lumpen und keine Schuhe getragen hatte, war auch das echter Luxus, auch wenn ihre armen Füße in den Schuhen schmerzten. Das Essen aus der Fabrikküche war einfach und knapp bemessen, doch es war besser als alles, was sie bisher gegessen hatte, und so gehörte ihr blasses, verkniffenes und halb verhungert wirkendes Äußeres bald der Vergangenheit an. Zwar wurde keine Schönheit aus ihr, aber ein einigermaßen hübsches Mädchen.
    An der Werkbank der Fabrik, wo sie von nun an den ganzen Tag lang die Schräubchen der Kriegsmaschinerie festzog, erzählte ihr ein Mädchen von seiner Schwester, die Krankenpflegerin war und die von den verwundeten, kranken oder im Sterben liegenden Männern berichtet hatte. Es regte sich etwas im Inneren der jungen Evie und sie wusste fortan, dass sie Krankenschwester werden musste. Sie fand heraus, wo die Schwester des Mädchens arbeitete, und bewarb sich bei der Oberschwester. Sie war zwar erst sechzehn, doch sie wurde als Angehörige einer freiwilligen Hilfseinheit eingestellt, was für jemanden aus ihrer Gesellschaftsklasse eine Stelle als einfache Stationshilfe bedeutete. Das machte ihr nichts aus. Sie hatte ihr ganzes Leben mit Hilfsarbeiten verbracht und nichts hatte je darauf hingedeutet, dass sich daran einmal etwas ändern sollte. Dieses Mal jedoch eröffneten sich ihr weitere Perspektiven. Voll Bewunderung für die ausgebildeten Krankenpflegerinnen beschloss sie, eine von ihnen zu werden, und mochte es noch so lange dauern.
    Schwester Evangelina sprach in Poplar mit ihren älteren Patienten oft über den Ersten Weltkrieg und tauschte mit ihnen Erinnerungen aus. Es waren diese Unterhaltungen, die ich beim Waschen eines Patienten oder beim Verbandswechsel mitverfolgen konnte, aus denen ich mir ihre Lebensgeschichte Stück für Stück zusammenfügte. Gelegentlich sprach sie direkt mit mir oder beantwortete

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