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Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Titel: Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Worth
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mir eine Frage, doch nicht sehr oft. Mir gegenüber öffnete sie sich kaum.
    Nur einmal erzählte sie von den Soldaten, die ihre Patienten waren. Sie sagte: »Sie waren so jung – sehr jung. Eine ganze Generation junger Männer starb und ließ eine ganze Generation junger Frauen weinend zurück.« Ich schaute sie über das Bett hinweg an – sie bemerkte es nicht – und sah, dass sich Tränen in ihren Augen sammelten. Sie schniefte laut und stampfte mit dem Fuß auf, dann fuhr sie etwas unsanft mit dem Anlegen der Bandage fort. Dabei sagte sie: »So, Vatter, das wärs. Bis in drei Tagen. Pass auf dich auf!« Und stapfte davon.
    Sie war zwanzig, als sie als Freiwillige hinter den feindlichen Linien arbeitete. Sie unterhielt sich mit einem Patienten über die damalige Luftwaffe und die zerbrechlichen Doppeldecker, die erst rund zwanzig Jahre zuvor erfunden worden waren. Sie sagte: »Es war nach der Frühjahrsoffensive der Deutschen 1918. Unsere Männer waren verwundet und lagen verlassen ohne medizinische Versorgung im Feindesland. Über die Straße konnte keine Hilfe zu ihnen gelangen, also wurde alles für eine Versorgung aus der Luft arrangiert. Ich bin mit dem Fallschirm abgesprungen.«
    Der Patient sagte: »Sie haben aber Mumm, Schwester. Wussten Sie denn nicht, dass fünfzig Prozent dieser frühen Fallschirme sich gar nicht erst öffneten?«
    »Sicher wusste ich das«, sagte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Sie haben uns das alles erklärt. Keiner wurde dazu gedrängt. Ich habe mich freiwillig gemeldet.«
    Ich sah sie nun mit anderen Augen. Um sich freiwillig zu melden, aus einem Flugzeug zu springen und dabei genau zu wissen, dass es mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit der letzte Schritt im Leben war, bedurfte es mehr als nur Mumm. Dazu braucht man einen Heldenmut, wie er nur selten zu finden ist.
    Eines Tages fuhren wir von der Isle of Dogs zurück nach Poplar. West Ferry Road, Manchester Road und Preston Road bildeten, wie heute, eine durchgehende Straße, die dem Lauf der Themse folgte. Damals lagen auf der Strecke jedoch noch mehrere Drehbrücken. So gelangten Lastschiffe zu den Docks, die aus einem Geflecht aus Kanälen, Ankerplätzen, Becken und Anlegern bestanden. Gerade als wir uns der Preston Road Bridge näherten, sprang die Ampel auf Rot, die Schranken schlossen sich und die Brücke begann sich zu drehen. Das konnte bedeuten, dass die Straße bis zu einer halben Stunde gesperrt blieb. Schwester Evangelina kochte vor Wut und fluchte. (Das war übrigens etwas, was die Leute von Poplar an ihr mochten: Sie war nicht so heilig, dass sie nicht leise vor sich hin geflucht hätte.) Es blieb eine Alternative: Wir konnten wieder zurückfahren und einmal ganz um die Isle of Dogs herumradeln, um nach etwa sieben Meilen in Limehouse wieder auf die West India Dock Road zu treffen. Nicht mit Schwester Evangelina. Sie schob ihr Fahrrad entschlossen durch die Schranken ( ZUTRITT VERBOTEN ), vorbei an dem Schild LEBENSGEFAHR und über das Pflaster bis zur Uferbefestigung. Wie gebannt folgte ich ihr. Was um alles in der Welt hatte sie vor? Sie stapfte auf die eng beieinanderliegenden Lastkähne zu und rief den Hafenarbeitern in Sichtweite entgegen, sie sollten kommen und uns helfen. Mehrere kamen, grinsten und zogen ihre Kappen. Einen von ihnen kannte sie.
    »Morgen, Harry. Wie gehts deiner Mutter? Ich hoffe, ihre Frostbeulen sind weg, jetzt wo das Wetter wieder besser ist. Grüß sie von mir. Halt mal bitte dieses Fahrrad, mein guter Junge, und hilf uns.«
    Sie zog ihren langen Rock hoch, klemmte ihn sich unter den Gürtel und marschierte dann auf den nächsten Kahn zu. »Reich mir mal den Arm, Junge«, sagte sie zu einem riesigen Mann etwa Anfang vierzig. Sie packte den Arm, zog ein Bein hoch, gestattete uns einen kurzen Blick auf dicke schwarze Strümpfe und lange Unterhosen mit einem Gummizug genau über dem Knie und machte einen Schritt auf den nächstliegenden Kahn. Ich begriff, was sie vorhatte. Sie wollte den Kanal so überqueren wie die Hafenarbeiter, indem sie von Kahn zu Kahn bis zum anderen Ufer sprang.
    Es lagen acht oder neun Lastkähne dort, die sie so überqueren wollte. Die Männer, wer sollte es ihnen verdenken, scharten sich um uns. Das Deck des ersten Kahns überquerten wir ohne Mühe. Dann jedoch musste sie über die Seiten der beiden längsseits liegenden Schiffe klettern, um auf das zweite Deck zu gelangen, und beide Lastkähne bewegten sich. Der große Mann musste seine ganze Kraft

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