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Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Titel: Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Worth
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ein Stock und ihr Gesicht erinnerte mit ihrer langen spitzen Nase, die zwischen ihren eingefallenen Wangen hervorsprang, an einen Vogel. Ihre Haut war gelblich grau und von Tausenden Fältchen durchkreuzt, und sie schien keine Lippen zu haben, denn sie zog sie in ihren zahnlosen Mund hinein und kaute und saugte ständig an ihnen herum. Sie trug einen verblichenen, speckigen, ausgeleierten schwarzen Hut, den sie tief ins Gesicht zog und unter dem hier und da fransiges graues Haar in Büscheln hervorschaute. Ob Sommer oder Winter, immer trug sie den gleichen langen grauen Mantel unbestimmbaren Alters, aus dem unten sagenhaft große Füße herausragten. Bei einer zierlichen Frau sahen solch riesige Füße nicht nur ungewöhnlich, sondern geradezu grotesk aus und sie erntete viel Spott, wenn sie auf ihren endlosen Wanderungen durch die Viertel schlurfte.
    Niemand wusste, wo sie wohnte. Für die Schwestern war das ein großes Mysterium und ebenso für alle anderen Leute. Auch unter den Priestern hatte niemand eine Ahnung. Allem Anschein nach ging sie nicht zur Kirche und gehörte auch keiner Gemeinde an, was unter den älteren Frauen ungewöhnlich war. Auch die Ärzte wussten nichts, da sie offenbar bei keinem Arzt registriert war. Vielleicht wusste sie nicht, dass es inzwischen ein staatliches Gesundheitssystem gab und sich jeder kostenlos behandeln lassen konnte. Selbst Mrs B., die über Klatsch und Tratsch aus der Nachbarschaft immer bestens informiert war, wusste nichts über sie. Niemand hatte sie je zum Postamt gehen sehen, um die Rente entgegenzunehmen.
    Ich hatte mich immer für sie interessiert, fand sie aber abstoßend. Zwar traf ich sie häufig, doch unsere Unterhaltung beschränkte sich immer nur auf ihre Frage nach dem Baby und meine kühle Antwort: »Mutter und Kind sind wohlauf«, worauf sie unweigerlich antwortete: »Gott sei Dank, Gott seis gelobt.« Ich habe nie versucht, eine Unterhaltung zu beginnen, da ich nichts mit ihr zu tun haben wollte, aber als ich einmal mit Schwester Julienne unterwegs war, ging sie gleich auf die alte Frau zu, nahm ihre beiden Hände und sagte mit einem gewinnenden Lächeln: »Hallo Mrs Jenkins, schön Sie zu sehen. Was für ein herrlicher Tag. Wie geht es Ihnen denn?«
    Mrs Jenkins schreckte mit einem halb furchtsamen, halb argwöhnischen Ausdruck in ihren stumpfen, grauen Augen zurück und zog ihre Hände weg.
    »Wie gehts dem Baby?«, sagte sie. Ihre Stimme klang rau.
    »Dem Baby geht es wunderbar. Ein hübsches kleines Mädchen, kräftig und gesund. Mögen Sie Babys, Mrs Jenkins?«
    Mrs Jenkins schreckte noch weiter zurück und zog ihren Mantelkragen bis zum Kinn hoch.
    »’n kleines Mädchen, sagen Sie, un gesund. Gott sei Dank.«
    »Ja, das stimmt, Gott sei Dank. Möchten Sie sie gerne einmal sehen? Ich bin mir sicher, dass die Mutter mir erlaubt, das Baby für einen kurzen Moment nach draußen zu bringen.«
    Aber Mrs Jenkins hatte sich bereits abgewandt und humpelte in ihren riesigen Männerstiefeln davon.
    Ein mitfühlender Ausdruck grenzenloser Liebe erfüllte Schwester Juliennes Gesicht. Sie stand mehrere Minuten still da und betrachtete die gebeugte, alte Gestalt, wie sie über das Pflaster schlurfte. Auch ich beobachtete Mrs Jenkins und bemerkte, dass sie schlurfte, weil sie nicht die Kraft hatte, die Stiefel anzuheben. Dann sah ich wieder zu Schwester Julienne hinüber und schämte mich. Sie sah nicht die Stiefel. Mir schien es, als sehe sie siebzig Jahre der Schmerzen vor sich, des Leids und des Durchhaltens und betete still für Mrs Jenkins.
    Ich war von Mrs Jenkins vor allem so angewidert, weil sie so schmutzig war. Ihre Hände und Fingernägel waren verdreckt und ich redete überhaupt nur mit ihr und berichtete ihr von jedem neugeborenen Baby, um zu vermeiden, dass sie mich am Arm packte, was sie immer mit erstaunlicher Kraft tat, wenn man auf ihre Fragen keine Antwort gab. Es war einfacher, kurz aus sicherer Entfernung zu antworten, um ihr dann zu entkommen.
    Einmal sah ich Mrs Jenkins bei einer meiner Runden, wie sie vom Bürgersteig auf die Straße trat. Sie stand breitbeinig da und pinkelte wie ein Pferd in den Rinnstein. Es waren eine Menge Menschen zu dieser Zeit unterwegs, aber niemand schien erstaunt, als sich ein dampfender Urinstrahl in den Rinnstein ergoss und im Kanal verschwand. Ein anderes Mal sah ich sie in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern. Sie nahm ein Stück Zeitung vom Boden auf, hob ihren Mantel und machte sich konzentriert

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