Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
aufbringen, um sie mit zwei oder drei anderen auf die andere Seite zu bekommen. Ich hörte die beiden sagen: »Gib mir mal ne Hand, guter Junge« und »mit Schwung« und »halt mich« und »schieben« und dann: »Geschafft, Schwester.« Ich folgte ihr mit mäßigem Geschick und konnte meinen Blick nicht von dieser abenteuerlustigen alten Nonne abwenden, während ihr Schleier im Wind wehte, Rosenkranz und Kruzifix wild umherschwangen und ihre Nase vor Anstrengung immer röter wurde. Zwei Männer trugen unsere Fahrräder hoch über den Köpfen, sie drehte sich um und wies sie scharf zurecht: »Passt bloß auf unsere Taschen auf. Das ist kein Spaß hier.«
Wir überquerten den zweiten und den dritten Lastkahn ohne Missgeschick, doch vor dem vierten tat sich eine Lücke von etwa einem halben Meter auf. Sie schaute auf das Wasser hinunter und machte »Hmpf«. Sie zog ihren Rock noch weiter hoch, rieb sich ein paar Tautropfen von der Nase und sagte zu dem kräftigen Mann: »Geh du zuerst rüber und fang mich auf.« Drei junge Männer packten sie – sie war kein Leichtgewicht – und sie trat an den Rand. Sie stand auf der schmalen Kante des treibenden Kahns mit dem Gewicht auf ihren beiden Plattfüßen und schaute den kräftigen Mann auf der anderen Seite entschlossen an. Sie keuchte. Dann schniefte sie noch einmal hörbar und sagte: »Gut, wenn ich mich ganz auf deine Schultern stützen kann, wirds klappen.« Er nickte und streckte die Arme aus. Vorsichtig lehnte sie sich vorwärts und legte ihre Hände auf seine Schultern, dann fasste er sie unter den Armen, während die jüngeren Männer sie von hinten stützten. Mein Herz schlug bis zum Hals. Wenn der Lastkahn sich in diesem Moment bewegte oder wenn sie ausrutschte, musste sie ins Wasser stürzen. Konnte sie überhaupt schwimmen? Was, wenn sie unter den Kahn geriet? Ich durfte nicht daran denken. Langsam und vorsichtig hob sie einen Fuß und machte einen Schritt auf den nächsten Kahn. Sie wartete eine Sekunde, fand ihr Gleichgewicht, zog dann schnell ihr zweites Bein nach und ließ sich in die Arme des kräftigen Mannes fallen. Jubel kam von überall her und ich klappte vor Erleichterung fast zusammen. Dann schniefte sie wieder.
»Na, das war doch nicht schlecht. Auch nicht schlimmer als rumstehen und in der Nase bohren. Weiter gehts.« Die übrigen Lastkähne lagen alle dicht nebeneinander, sie erreichte die andere Seite im Triumph und mit rotem Gesicht. Sie zog ihren Rock wieder hinunter, nahm ihr Rad, lächelte in die Runde und sagte: »Danke, Jungs, ihr wart klasse. Wir sind jetzt weg.« Und mit ihrem üblichen Gruß an die Werftarbeiter: »Passt auf euch auf, dann braucht ihr keinen Arzt«, radelte sie aus dem Hafen.
* »A touch of the inkey blue« bedeutet wörtlich »ein bisschen Tintenblau«. (Anm. d. Übers.)
** Engl. »coat« (»Mantel«) reimt sich auf »weasel and stoat« (»Wiesel und Hermelin«), also steht »weasel« für »coat«. (Anm. d. Übers.)
Mrs Jenkins
Mrs Jenkins war eine geheimnisvolle Erscheinung. Seit Jahren war sie auf den Straßen der Docklands unterwegs, von Bow bis Cubitt Town, von Stepney bis Blackwall, und doch wusste niemand etwas über sie. Der Grund für ihr rastloses Umherstreifen war ihre Obsession für Babys und besonders für Neugeborene. Sie schien Gott weiß woher zu wissen, wo und wann eine Hausgeburt bevorstand, und in neun von zehn Fällen trieb sie sich vor dem Haus auf der Straße herum. Sie sagte nie viel und ihre Frage war immer dieselbe: »Wie gehts dem Baby? Wie gehts dem Klein’n?« Wenn man ihr sagte, dass das Baby lebte und gesund war, war sie häufig schon zufrieden und schlurfte davon. Man traf sie jeden Dienstagnachmittag während der Vorsorgesprechstunde draußen vor der Tür an, die meisten jungen Mütter schoben sich ungeduldig an ihr vorbei oder zogen ihre Kleinkinder von ihr weg, als sei sie ansteckend oder könne das Kind mit einem bösen Zauber belegen. Wir kannten die zwischen den Zähnen hervorgestoßenen Bemerkungen: »Die is ne alte Hexe, pass auf, die hat den bösen Blick«, und manche Mütter glaubten offenbar wirklich daran.
Mrs Jenkins war nie willkommen, von niemandem erwünscht und von vielen gefürchtet. Dennoch hielt sie das nicht davon ab, zu jeder Tages- und Nachtzeit, oft bei schlechtestem Wetter, auf die Straße zu gehen und vor dem Haus, in dem ein Baby zur Welt kam, zu warten, um nachzufragen: »Wie gehts dem Baby? Wie gehts dem Klein’n denn?«
Sie war zierlich, dünn wie
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