Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
das ganze Jahr über verkauft. Die köstlichen Kuchen, Plätzchen und das knusprige Brot wurden von den Nonnen oder von den vielen Frauen des Stadtteils gebacken, die im Nonnatus House arbeiteten. Wer wegen eines Einsatzes eine Mahlzeit verpasste, durfte sich in der Speisekammer bedienen. Ich wusste diese Freiheit sehr zu schätzen; aus dem Krankenhaus, wo man um etwas zu essen betteln musste, wenn man aus irgendeinem Grund eine Mahlzeit verpasst hatte, kannte ich es ganz anders.
Es war ein königliches Festmahl. Ich hinterließ einen Zettel, auf dem ich darum bat, gegen halb zwölf mittags geweckt zu werden, und überredete meine müden Beine, mich nach oben in mein Zimmer zu tragen. Ich schlief wie ein Baby, und als mich jemand mit einer Tasse Tee weckte, wusste ich nicht mehr, wo ich war. Der Tee erinnerte mich wieder daran. Nur die netten Schwestern brachten einer Hebamme, die die ganze Nacht lang gearbeitet hatte, eine Tasse Tee. Im Krankenhaus hätte es einmal laut an die Tür geklopft und das wäre es schon gewesen.
Unten schaute ich ins Buch mit dem Tagesplan. Nur drei Besuche bis zum Mittagessen. Eine der Patientinnen war Muriel, die anderen beiden lebten in den Wohnblocks, an denen ich unterwegs vorbeikäme. Die vier Stunden Schlaf hatten mich völlig erfrischt, ich holte mein Fahrrad und radelte in bester Laune durch den sonnigen Tag.
Die Wohnblocks sahen immer trist aus, bei jedem Wetter. Sie waren als Gebäudekomplex mit vier Seiten angelegt. Alle Wohnungen waren nach innen ausgerichtet. Die Gebäude waren etwa sechs Stockwerke hoch, sodass kaum Licht in den Innenhof fiel, den gemeinschaftlichen Treffpunkt der Bewohner. Im Innenhof waren die Wäscheleinen angebracht, und da es Hunderte von Wohnungen in jedem Block gab, hingen sie immer bis zum Rand voller Wäsche, die im Wind flatterte. Auch die Mülltonnen standen im Innenhof.
In der Zeit, über die ich schreibe, in den 1950er-Jahren, gab es eine Toilette und fließend kaltes Wasser in jeder Wohnung. Bevor diese Annehmlichkeiten installiert wurden, waren die Toiletten und Wasserhähne im Innenhof und jeder musste nach unten gehen, um sie zu benutzen. In manchen Wohnblocks blieben die Toilettenschuppen stehen, die man nun als Unterstand für Fahrräder und Motorräder verwendete. Es waren nicht viele – höchstens drei Dutzend – und ich wunderte mich, wie es nur genug Toiletten für alle Bewohner der rund fünfhundert Wohnungen gegeben haben konnte.
Ich bahnte mir meinen Weg durch die Wäsche und kam zu der gesuchten Treppe. Alle Aufgänge lagen außen, bestanden aus Steinstufen und führten zu einer nach innen offenen Galerie, die rings um das ganze Gebäude führte. Jede Wohnung hatte ihren Zugang über diese Galerie. Während der Innenhof das soziale Zentrum war, stellten die Galerien die Verkehrsadern dar. Überall sprudelte das Leben und es wurde getratscht. Was für die Bewohner der Reihenhäuser die Straßen waren, waren für die Frauen aus den Wohnblocks die Galerien. Die Menschen lebten auf so engem Raum, dass wohl niemals jemand, der etwas ausgefressen hatte, ungeschoren davonkam, weil die Nachbarn immer über alles Bescheid wussten. Die Welt außerhalb war für die Menschen des East Ends nie von sonderlichem Interesse, daher war das Leben der anderen das wichtigste Gesprächsthema – für die meisten war es das einzige von Interesse und das einzige Freizeitvergnügen. Es verwundert nicht, dass in den Wohnblocks häufig wilde Prügeleien ausgetragen wurden.
Die Wohnblocks sahen im Licht der Mittagssonne ungewohnt heiter aus, als ich an diesem Tag ankam. Ich bahnte mir meinen Weg durch den Abfall, die Mülltonnen und die Wäsche im Innenhof. Kleine Kinder sammelten sich um mich. Die Entbindungstasche einer Hebamme ist ein äußerst interessantes Objekt – sie dachten, dass wir darin die Babys transportieren.
Ich fand den richtigen Aufgang und stieg bis in den fünften Stock zu der Wohnung, die ich besuchen wollte.
Alle Wohnungen waren ähnlich aufgebaut: zwei oder drei Räume, die untereinander verbunden waren. Eine Steinspüle in einer Ecke des Hauptraums, ein Gasherd und ein Schrank bildeten die Küche. Die Toiletten mussten, als man sie einbaute, nahe der Wasserleitung installiert werden, also lagen sie in einer Ecke bei der Spüle. Die Installation der Toiletten war in hygienischer Hinsicht ein großer Fortschritt, denn es verbesserte die Bedingungen in den Innenhöfen. Außerdem waren nun die Nachttöpfe unnötig geworden, die
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