Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
dem Baby das Haus zu verlassen, den Kinderwagen Stufe für Stufe die Treppen hinuntermanövrieren musste, nur um ihn bei der Rückkehr auf die gleiche Weise nach oben zu bugsieren, neben dem Baby häufig noch beladen mit Lebensmitteln, dann kann man erahnen, wie zäh diese Frauen sein mussten. Fast jedes Mal, wenn ich die Wohnblocks aufsuchte, konnte ich beobachten, wie eine Frau mit einem großen Kinderwagen die Treppen hinunter- oder hinaufholperte. Wenn sie im obersten Stockwerk lebte, waren das an die siebzig Stufen in jeder Richtung. Die Wagen hatten große Räder, mit denen das überhaupt erst möglich war, und sie waren gut gefedert, sodass die Babys arg durchgeschüttelt wurden. Sie liebten es, lachten und quietschten vor Vergnügen. Doch bei glatten Stufen war es auch gefährlich, denn gelenkt werden konnte allein mit dem Handgriff, sodass der Wagen mit dem Baby, falls die Mutter aus Versehen ins Leere trat oder aus irgendeinem anderen Grund losließ, die ganze restliche Treppe hinunterstürzte. Wenn ich eine Frau mit ihrem Kinderwagen sah, half ich ihr immer, indem ich ihn an der anderen Seite hochhob und die Hälfte des Gewichts trug, was bereits eine beträchtliche Last war. Das volle Gewicht muss für eine Frau allein enorm gewesen sein.
Edith begrüßte mich in einem schmutzigen Bademantel, ausgelatschten Pantoffeln und Lockenwicklern. Sie stillte ihr Baby und rauchte dabei. Aus dem Radio plärrte Popmusik. Sie wirkte vollkommen glücklich. Sie hatte eine gesündere Gesichtsfarbe und sah jünger aus als noch einige Monate zuvor. Die Ruhe hatte ihr offenbar gutgetan.
»Hallo Liebes, komm rein. Wie wärs mit’m schönen Tässchen Tee?«
Ich erklärte, dass ich noch weitere Besuche vor mir hatte, und lehnte den Tee dankend ab. Ich konnte sehen, welche Fortschritte sie beim Stillen machte. Das Baby saugte gierig, doch mir fiel gleich auf, dass Ediths flache, kleine Brüste wahrscheinlich nicht genug Milch produzierten. Dennoch war das wesentlich besser, als wenn sie dem Baby sofort Milch aus Milchpulver gegeben hätte, also sagte ich nichts dazu. Sollte das Baby nicht zunehmen oder echte Anzeichen von Hunger zeigen, dann kann man immer noch darüber reden, dachte ich. Wir besuchten jede Patientin nach der Entbindung mindestens zwei Wochen lang jeden Tag, also sahen wir sie sehr häufig.
In dieser Zeit wurde es allmählich modern, die Babys mit künstlicher Säuglingsnahrung zu füttern und es der Mutter zu empfehlen, da es das Beste für das Baby sei. Doch die Hebammen des Heiligen Nonnatus schlossen sich dieser Ansicht nicht an. Wir rieten allen unseren Patientinnen, ihren Kindern so lange wie möglich die Brust zu geben, und halfen ihnen dabei. Zwei Wochen Bettruhe wirkten dabei unterstützend, denn die Mutter ermüdete nicht so rasch vor lauter Geschäftigkeit und ihr Körper konnte all seine Kraft darauf verwenden, Milch für das Baby zu produzieren.
Während ich mich in dem vollgestellten Zimmer mit der spartanisch eingerichteten Kochecke umsah und bemerkte, wie sehr es am Nötigsten fehlte, wurde mir schlagartig klar, dass künstliche Milch für das Baby fatal wäre. Wo sollte Edith die Fläschchen und die Milchpulverdosen aufbewahren, wie sie sterilisieren? Würde sie sich diese Mühe machen? Würde sie sie überhaupt sauber halten, von Sterilisieren ganz zu schweigen? Es gab keinen Kühlschrank und ich konnte mir gut die halb ausgetrunkenen Fläschchen vorstellen, wie sie im Zimmer umherlagen, bis man sie dem Baby ein zweites oder drittes Mal gab, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sich Bakterien im Nu in abgekühlter Milch ausbreiten, wenn man sie wieder aufwärmt. Nein, es war viel sicherer, wenn das Baby weiter die Brust bekam, selbst wenn die Milch nicht ganz ausreichte.
Ich erinnere mich gut an den Unterricht über die Vorteile des Fläschchens während des ersten Teils meiner Ausbildung als Hebamme. Das klang alles sehr überzeugend. Als ich dann bei den Hebammen des Heiligen Nonnatus zu arbeiten begann, hielt ich sie für sehr altmodisch, weil sie stets die Brust empfahlen. Damals hatte ich noch nicht bedacht, unter welchen Umständen die Menschen lebten, für die die Schwestern da waren. Die Dozentinnen wussten nichts vom wirklichen Leben. Für sie war es Unterrichtsstoff und sie dachten an ein Idealbild junger Mütter aus der gebildeten Mittelschicht, das nur in ihrer Vorstellung existierte; Frauen, die alle Regeln beachteten und alles taten, was man ihnen sagte. Die
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