Callgirl
wissen, dass er sie nicht kriegt.«
Ich hörte, wie sie sich eine Zigarette anzündete, und wartete auf den ersten Zug. »Na ja, ab und zu tut ihm eine den Gefallen, und das lässt ihn hoffen. Mach kein Problem draus, Jen. Er will
einfach nur die Telefonnummer von einer Nutte haben. Das gibt ihm was.«
Es war das erste Mal seit damals mit Seth, dass das Wort Nutte in Bezug auf meine Tätigkeit angewendet wurde, und ich war wie vor den Kopf geschlagen. Vor meinem inneren Auge sah ich mich in der Universität an der Tafel stehen und dozieren: »Wenden wir uns nun dem Thema ›Nutte‹ zu: Der englische Ausdruck ›Hooker‹ für eine Prostituierte geht wahrscheinlich auf den Nordstaatengeneral Joseph Hooker zurück, der während des Bürgerkriegs Prostituierten erlaubte, seiner Armee hinterherzuziehen, damit die Soldaten nicht auf eine der angenehmen Seiten des häuslichen Lebens verzichten mussten. Die Frauen waren als ›Hooker’s Division‹ bekannt, wovon sich das heutige Wort Hooker für Nutte ableitet.«
Peachs Stimme holte mich aus meiner imaginären Seminarstunde zurück in die Gegenwart. »Jen? Jen, bist du noch da?«
»Ja, Peach, alles klar«, antwortete ich knapp. »Ist schon in Ordnung. Frohe Weihnachten.«
»Frohe Weihnachten, Jen.«
Drei Stunden später saß ich mit Luis am runden Familientisch seiner Eltern und bemühte mich verzweifelt, einen einigermaßen geistreichen Eindruck beim Smalltalk zu machen. Ich war ausgelaugt, hatte Kopfschmerzen und war zusätzlich genervt von Luis’ Versuchen, mich seinen Eltern zu präsentieren, als sei er der Oberkellner und ich eine von ihnen bestellte kulinarische Delikatesse.
» Entonces , Luis hat uns erzählt, dass Sie an der Universität sind«, strahlte mich seine Mutter an. Auch sie sei Hochschullehrerin gewesen, in ihrer Heimat Ecuador, habe aber nach der Heirat mit Luis’ Vater, einem Diplomaten aus Venezuela, ihre wissenschaftliche Laufbahn aufgegeben.
»Ja, aber vorerst bin ich nur freie Dozentin. Ich hoffe, dass es eines Tages mit einer Professur klappt.«
»Was ist denn Ihr Fachgebiet?«, fragte Luis’ Vater und blickte zum ersten Mal von seinem Teller hoch, auf dem sich noch blutiges Rindfleisch befand.
Ich nahm einen Schluck Wein, bevor ich antwortete. »Ich habe in Anthropologie promoviert. Ich unterrichte …« Luis trat mir unter dem Tisch auf den Fuß, und ich verschluckte das Satzende mit Hilfe eines künstlichen, nicht sehr überzeugenden Hustenanfalls.
Seine Mutter, die nicht bemerkte – oder absichtlich ignorierte -, was sich unter dem Tisch abspielte, hakte nach: »Was für Kurse unterrichten Sie denn gerade?«
Ich warf Luis einen Hilfe suchenden Blick zu, doch er unternahm nichts, um mir aus der Patsche zu helfen. Deshalb sagte ich die Wahrheit. »Ich gebe drei Wahlkurse, wobei zwei davon Themen behandeln, die ich selbst entwickelt habe.« Bitte, lass es damit gut sein, betete ich innerlich, doch weil ich nicht sicher war, ob mein Gebet erhört würde, ergriff ich die Initiative und wechselte so elegant wie möglich das Thema. »Luis hat mir gesagt, dass Sie viel reisen. Haben Sie in der nächsten Zeit schon irgendwelche Reisepläne?«
Luis wurde endlich wach und antwortete an Stelle seiner Eltern. »Im Februar reisen sie nach Australien«, erklärte er. »Mama, der Braten ist exzellent.«
»Worum geht es in Ihren Seminaren?«, fragte sein Vater, ein Mann mit dem unglückseligen Talent, an einem einmal gewählten Thema festzuhalten. Ich hätte gut darauf verzichten können.
Ich tupfte den Mund mit der Leinenserviette ab und sagte: »Das eine heißt ›Über Tod und Sterben‹, das zweite ›Anstaltsleben‹ und der dritte Kurs trägt den Titel ›Geschichte und Soziologie der Prostitution‹«, um im selben Atemzug fortzufahren: »Luis, ich kann dir nur beipflichten: Der Braten schmeckt einfach köstlich.«
Seine Mutter setzte eine bekümmerte Miene auf. »Ihre Themen
kommen mir recht – ungewöhnlich vor«, meinte sie zögerlich.
»Reine Zeitverschwendung«, kam es vom Vater, der dabei nicht einmal von seinem Teller aufsah.
Und urplötzlich packte mich die Wut.
Ich war wütend darüber, dass er diese Menschen einfach achselzuckend abtat, dass er ihnen mit derselben Ablehnung begegnete, auf die sie seit unzähligen Jahrhunderten gestoßen sind. Menschen, die man in gefängnisähnliche Anstalten sperrte, die jedoch im Gegensatz zu anderen Gefangenen weder Anspruch auf einen Prozess noch Hoffnung auf Begnadigung hatten.
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