Callgirl
Sprache lernen, Freundschaften pflegen, mehr Ordnung halten.
In jenem Jahr hatte ich Zeit und Muße zum Nachdenken. Ende Dezember bis Anfang Januar war eine ruhige Zeit für mich, unterbrochen nur von wenigen Partys. Zum Beispiel die obligatorische Fakultäts-Cocktailparty am Neujahrstag, ein paar Scrabble-Abende, zu denen Peach mich mitschleppte, und ein von Irene veranstaltetes Kostümfest, das nicht ganz in die Jahreszeit passte. Ich ging zu allen Einladungen und gab mir Mühe, nett zu sein und mich zu amüsieren.
Aber was mich am meisten beschäftigte, war die Frage, wie es mit mir weitergehen solle. Ich dachte darüber nach, was mir bei dem Weihnachtsessen mit Luis klar geworden war. Ich dachte darüber nach, woher ich kam und wohin ich gehen sollte.
Es schien fast so, als wäre ich an einer Art Kreuzweg angelangt. Meine Karriere, also meine wahre Karriere am College, machte allmählich den Eindruck, als wenn tatsächlich noch etwas aus ihr werden könnte. Man hatte mir so viele Kurse zugesagt, wie ich haben wollte, und es war nur logisch, dass ich nach ein, zwei Jahren für eine der seltenen freien Stellen, die zu einer Festanstellung führten, in Frage kommen könnte. Zweifellos hatte ich erste gute Kontakte angeknüpft, sowohl in meinem College wie auch an den anderen Hochschulen, die mich als Gastdozentin eingeladen hatten. Das Ganze sah positiver aus denn je und war, im Vergleich zu früher, tatsächlich in den Bereich des Möglichen gerückt.
Andererseits reichte das Geld immer noch nicht. Weder für die Miete noch für den Riesenhaufen Kreditkartenrechnungen (viele davon hatte ich Peter, der miesen Ratte, zu verdanken, aber unterschrieben hatte ich die Rechnungsbelege selbst, blöd wie ich war), des Weiteren nicht für die Abzahlung des Studiendarlehens, meine private – und teure – Krankenversicherung und anderes mehr. In dieser Hinsicht würde ich erst auf der sicheren
Seite sein, wenn ich eine Professur innehatte, eine mit einem regelmäßigen Gehalt und freiwilligen Leistungen des Arbeitgebers.
Also musste ich weiter für Peach arbeiten. Offen blieb nur, wie oft, und wie ich erreichen konnte, dass mein Nebenjob meinen Beruf nicht beeinträchtigte.
Und die ganze Zeit zog sich eine weitere Frage durch meine Gedanken, Listen und Pläne: Wie konnte ich das alles hinkriegen, ohne dass mein Leben beeinträchtigt wurde?
Dass ich so weit gekommen war, lag nicht daran, dass ich besonders brillant war oder mich über die Maßen angestrengt hatte. Was mich wirklich gerettet hatte, war das Seminar über die Prostitution gewesen, das wurde mir jetzt klar. Davon abgesehen gelang es mir nicht besonders gut, auf mich selbst Acht zu geben. Die Qualität meines Unterrichts hatte sich verschlechtert, weil ich an Schlaf- und Zeitmangel litt und unfähig war, ohne die Drogen auszukommen, die mich abwechselnd wach machten und wieder einschlafen ließen. Ich hatte zwar seit Semesterende nicht mehr gekokst und bei den Partys nur mäßig getrunken. Aber ich machte mir nichts vor. Bei vier Kursen pro Woche plus vier Kunden pro Woche würde ich im Handumdrehen wieder in meine alten Gewohnheiten zurückfallen. Das schien unausweichlich. Und diesmal würde kein glanzvoller neuer Beitrag zum Lehrplan vom schwankenden Niveau meines Unterrichts, meinem ewigen Zuspätkommen und meinem gelegentlichen zombieartigen Auftreten ablenken. Diesmal hätte ich nichts, wohinter ich mich verstecken konnte. Und das bedeutete das Ende meiner Karriere, bevor sie überhaupt wirklich in Schwung gekommen war.
Und Luis … Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit ihm umgehen sollte. Seine Vorliebe für lange Nächte hatte mein Problem nur noch verschärft. Auch wenn ich für Peach bloß noch am Wochenende arbeiten würde, wäre während der Woche immer noch Luis da. Ich brauchte – ich griff zu einem alten Briefumschlag
und überschlug die Summen -, ja, ich brauchte drei, vielleicht auch vier Kunden in der Woche.
Mein guter Vorsatz fürs neue Jahr lief also darauf hinaus, dass ich herausfinden musste, was ich tun sollte. Das Nachdenken darüber würde länger als bloß einen einzigen Abend dauern. Einstweilen sah ich mir im Fernsehen an, wie nach altem Silvesterbrauch der Ball auf den Times Square in New York fiel, prostete Scuzzy mit einem Glas Schaumwein aus Vouvray zu und legte mich schlafen.
Wie sich bald zeigte, hätte ich mir wegen Luis keine Gedanken machen müssen. Er löste das Problem ganz allein.
Kapitel 16
Luis hatte es selber
Weitere Kostenlose Bücher