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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Angell
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Frauen, die man in die Prostitution gezwungen und dann eben deswegen ermordet hatte, wobei ihre sanktionierten Mörder die gleichen waren, die sie vorher sexuell ausgebeutet hatten, und die dann die Spuren ihres ersten Verbrechens mit einem weiteren auslöschen wollten. Kinder, verlassen, verletzt und verängstigt, die ihr Leben in der seltsamen Schattenwelt fristeten, in der jene verlorenen Seelen sie zurücklassen mussten, namenlos, weil ihre Eltern offiziell nicht mehr existierten. All die Vergessenen, deren Stimmen mir wie ein unheimliches Echo aus meinen Textauszügen entgegenschallten, und von Folter, Tod und Erniedrigung kündeten. Verantwortlich dafür waren arrogante, selbstsüchtige und gleichgültige Männer, die dieses Leid verursachten, selber zufügten und billigten, bevor sie es dann schulterzuckend abtaten – Männer wie dieser, der mir hier am Tisch gegenübersaß, seinen Braten begutachtete und jeden Gedanken vermied, der seine bequeme, beschränkte Sicht der Wirklichkeit gestört hätte.
    Ja, ich hatte mich dafür entschieden, sie zu Wort kommen zu lassen, zu ihrem Sprachrohr zu werden. Ich hatte den Lehrplan für meine Kurse selbst erstellt, ich gab die wahren Umstände ihrer Existenz an Menschen weiter, von denen ich hoffte, dass sie Achtung vor ihnen hatten. Bei diesen Seminaren ging es nicht darum, den Dekan zu beeindrucken oder eine Festanstellung zu ergattern
oder möglichst oft zu Vorträgen eingeladen zu werden, auch wenn ich das ursprünglich im Sinn gehabt hatte. An jenem Heiligabend erkannte ich, dass dies nicht das Eigentliche war.
    Ich gab Menschen, denen man ihre Geschichte genommen hatte, ihre eigene Geschichte zurück. Ich gab dem Andenken an Menschen, die in ihrem Leben aller Würde beraubt worden waren, die Würde zurück. Ich legte den Keim der Empörung und des Mitgefühls in die Herzen junger Menschen, die dieses Wissen vielleicht eines Tages dafür nutzen würden, anderen beizustehen – den Obdachlosen, den psychisch Kranken, den Vergessenen und Einsamen.
    Und den Prostituierten.
    Ich holte tief Luft und sagte, so ruhig ich konnte: »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden. Ich muss gehen.«
    Als ich – unbegleitet – die Haustür hinter mir schloss, überlegte ich, wie lange es wohl dauern würde, bis Luis wieder mit mir reden würde.
     
    Es kam zu keinem Treffen mit Freddie am Tag nach Weihnachten, und auch in den folgenden Tagen tat sich nicht viel in der Agentur. Luis war mit seinen Eltern zu älteren Verwandten gereist, die irgendwo in der Nähe von New York wohnten. Ich hatte keine Unterrichtsvorbereitungen, auch keine neuen Seminarprogramme zu schreiben, und so plagte mich die Langeweile. Ich ließ mir sogar die Nägel maniküren, eine echte Verzweiflungstat.
    Schließlich rief ich Peach an, nur um mit jemandem zu reden. »Ist denn gar nichts los?« Um die Wahrheit zu sagen, konnte ich einen Auftrag gut gebrauchen – Luis’ Weihnachtsgeschenk, eine Armbanduhr Marke Patek Philippe, hatte mich mehr gekostet als ursprünglich geplant. Und jetzt war nicht mal sicher, ob ich noch Gelegenheit haben würde, sie ihm zu geben.
    »Nichts, Jen. Du weißt doch, zwischen Weihnachten und Neujahr gehen die Geschäfte schlecht.«

    »Hast du denn nicht eine einzige Anfrage?« Ich klang missmutig und gereizt. Okay, ich war missmutig und gereizt. Von daher passte es.
    Sie seufzte. »Ich hatte eine Anfrage. Der Kunde verlangte eine zwanzigjährige Asiatin. Hätte ich dich zu dem schicken sollen?«
    »Nein, nein, ich weiß, Peach, ich bin nur schlecht drauf. Sag mir Bescheid, wenn wieder was reinkommt.«
    Als ich Mitternacht im Garten der Lüste schon halb durchgelesen hatte, rief sie endlich zurück. »Hab jemanden, ist aber ein neuer Kunde, ich weiß nicht, ob du das willst.«
    »Hm«, machte ich. »Ich – ja, ähem …« Normalerweise habe ich immer einen witzigen Spruch parat, aber dies war eine schwierige Frage. Ich hatte Peach von Anfang an gesagt: Keine Neukunden, nur Leute, die du kennst, die definitiv keine Bullen sind. Ich kann diesen Job nur machen, solange niemand davon weiß. Ein einziger Mensch, dem ein Festnahmeprotokoll vor die Augen kam, genügte schon, um alles, was in meinem Leben sinnvoll war, zu zerstören. »Was hattest du für einen Eindruck von ihm?«, fragte ich schließlich.
    »Er hörte sich okay an. Du kannst ja jederzeit weggehen, wenn dir etwas komisch vorkommt.«
    Also nahm ich an. Der neue Kunde erwies sich am Telefon als ziemlich wortkarg, aber

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