Callgirl
Schweigen ist mein Freund. Es bereitet den
Menschen Unbehagen. Deshalb reden sie, um das Schweigen zu brechen, und sagen dann oft Sachen, die sie sonst vielleicht nicht sagen würden. Edna St. Vincent Millays Worte klangen durch die Stille: »I shall die, but that is all I shall do for death / I am not on his payroll.« Und diesmal hatte ich den Kursteilnehmern das Schlimmste sogar noch erspart. Mit Jarrells »Death of the Ball-Turret Gunner« konnte man überfüllte Klassenräume leer bekommen. Ich hatte es im letzten Semester einmal im Unterricht vorgetragen, und einem Drittel der Studenten wurde speiübel. Auf jeden Fall sahen sie so aus.
Ich wartete. Und in das Schweigen platzten meine eigenen Gedanken.
Diese Leute, meine Studenten, hörten sich Gedichte an, obwohl sie felsenfest überzeugt waren, dass so etwas wie Poesie keinen Platz in ihrem Leben hatte. Sie taten es, weil ich sie darum bat. Zwischen uns hatte sich in den vergangenen Wochen und Monaten so viel Vertrauen entwickelt, dass ich sie bitten konnte, sich archaische Worte anzuhören und die darin zum Ausdruck gebrachten Wahrheiten zu entdecken. Sie vertrauten mir. Ich war eine Autoritätsperson.
Tatsächlich nannte mich die Hälfte der Klasse »Doktor«. Der Inbegriff der Autoritätsperson. Das war schon ein bisschen unheimlich. Was war, wenn ich zu viel von einer Autoritätsperson hatte, um sexy zu sein? Was, wenn Peach mir keine neuen Aufträge gab? Oder wenn ich zu einem Kunden ging und er mich ablehnte? Was, wenn Bruce sich als absolute Ausnahme entpuppte? Vielleicht war ich wirklich schon zu alt für diesen Job? Würde ich mich am Ende voll Bitterkeit an diese erste Nacht erinnern, weil ich einen Zipfel von etwas erhascht hatte, das ich gern haben wollte und nicht bekommen konnte? Falls es so enden sollte, wäre es dann besser gewesen, wenn ich es gar nicht erst versucht hätte?
Als ich Peach später am selben Tag anrief, bestand ich erneut
(und diesmal mit etwas mehr Bestimmtheit) auf einem persönlichen Treffen.
Sie wollte nicht. Sie sträubte sich mit Händen und Füßen. Wie ich später herausfand, traf sie sich mit keiner der Frauen. Jedenfalls nicht am Anfang und manchmal überhaupt nicht. Sie wartete immer, bis sie sich auf Grund der Telefonate und der Kundenberichte bereits eine Meinung gebildet hatte. Den Grund habe ich nie herausbekommen. Vielleicht machten persönliche Begegnungen die ganze Angelegenheit zu real. Vielleicht konnte sie eine gewisse Distanz wahren, solange beide – die Mitarbeiterinnen und die Kunden – körperlose Stimmen am andere Ende der Telefonleitung blieben.
Doch die Realität (die notwendige Realität ihres Jobs) holte sie spätestens dann ein, wenn sie die Frauen wissentlich an ziemlich schreckliche Orte und in noch schrecklichere Situationen schickte. Ihr blieb nichts anderes übrig. Wie sie einmal in einem unbedachten Augenblick sagte: »Jen, wenn ich jemals wirklich darüber nachdenken würde, könnte ich die Mädchen nirgendwo hinschicken.« Für Peach war es wahrscheinlich leichter, ihre Arbeit zu tun, wenn sie keine echte Vorstellung von den Personen hatte, wenn sie ihnen nie begegnet war und sie nicht als Individuen anerkennen musste. So konnte sie dafür sorgen, dass die Frau am anderen Ende des Telefons keine wirkliche Gestalt annahm, sondern weiterhin lediglich aus einer Liste von Zahlen und erfundenen Daten bestand: Maße, Größe, Gewicht, Farbe der Augen, Haarlänge, ungefähres Alter. Dazu kam dann noch eine kleine erfundene Geschichte (»Ein ganz süßes Mädel, gerade aus Kanada hierher gezogen, um eine Ausbildung zu machen«). Diese Geschichte wurde angepasst und abgewandelt, ganz auf die Bedürfnisse des einzelnen Kunden zugeschnitten. Und die Kunden waren immer wieder aufs Neue überrascht (etwas naiv, wie ich am Anfang fand), dass Peach immer genau das Passende für sie in petto hatte.
Hier noch eine kleine Randbemerkung über ein Kuriosum: Tatsache ist, dass Männer nicht in der Lage sind, das Alter einer Frau einzuschätzen. Was das betrifft, gibt es offenbar irgendeine defekte Gehirnzelle, die nicht aktiviert wird, irgendeinen Fehler in der männlichen DNS, der dazu führt, dass sie unfähig sind, eine Frau anzuschauen und eine einigermaßen realistische Schlussfolgerung über ihr Alter zu ziehen. Oder vielleicht ist das Ganze auch ein Ergebnis starker sexueller Erregung – ein Zustand, in dem, wie wir alle wissen, nur ein Kopf voll funktionsfähig bleibt. Wie auch immer, Männer
Weitere Kostenlose Bücher