Callgirl
Informationszentrale, sammelte Daten, wertete sie aus und wartete auf eine gute Gelegenheit, um sein Wissen auszunutzen.
Anne, ein weiteres Callgirl von Peach, machte kurz darauf eine schwere Zeit durch. Sie arbeitete für die Agentur, steckte aber jede freie Minute in Gesangsauftritte, wo immer sie ein Engagement bekommen konnte, und nahm Einzelstunden bei einem Gesangslehrer. Sie hatte ein Ziel, das sie unbedingt erreichen wollte. Doch das Suchtungeheuer streckte seine Tentakel nach ihr aus. Der Schlafmangel und der berufliche Stress forderten ihren Tribut. Sie trank zu viel, nahm zu viele Drogen. Mit Abe traf sie sich durch Vermittlung der Agentur und auch auf eigene Rechnung. Anne war jung. Abe beteuerte ihr, dass er sie gern habe, und sie glaubte ihm. Als ihr Freund sie zusammenschlug, wandte
sie sich Trost suchend an Abe. Und Abe nahm sie mit offenen Armen auf. Kein Zwang, versicherte er ihr, keine Verpflichtungen. Sie schlief auf seinem Sofa, bot ihm Sex, leistete ihm Gesellschaft, förderte sein Selbstwertgefühl – und redete viel mit ihm.
Sie hätte schweigen sollen.
Anne kam natürlich wieder zu Kräften, gewann an Stärke. So ist das immer: Entweder du gehst kaputt oder du wirst stärker. Es gibt nicht viele Alternativen. Anne zog Bilanz, dachte gründlich über ihr Leben nach und beschloss, einiges zu verändern. Sie hörte auf zu trinken, hörte auf, Kokain und Percocet zu nehmen, und konzentrierte sich auf ihre Musik. Sie ging zu den Anonymen Alkoholikern. Sie arbeitete immer noch für Peach, nahm aber nur noch »frühe« Kunden an. Spätestens um 22 Uhr war sie zurück in Abes Wohnung und auf dem Sofa eingeschlafen. Es war ein Märchen mit einem glücklichen Ende.
Das heißt, für alle außer für Abe. Er brauchte Menschen, die ihn brauchten. Er brauchte es, dass Anne elend und süchtig war, dass sie zitternd von ihrem Kokaintrip herunterkam, während er sie im Arm hielt, sie tröstete und ihr Geborgenheit vermittelte. Er gab ihr Percocet. Sie schluckte die Pillen, die ihr aus dem Stimmungstief heraushalfen und die Welt in ein weicheres Licht tauchten. Die Pillen machten Anne sanft, freundlich, gefügig und dankbar. Sie gab zu, dass sie ohne Abe nicht leben konnte. Sie massierte seinen Rücken und sein Ego, gab ihm als Gegenleistung für seine Unterstützung, was er verlangte, damit sie endlich schlafen konnte …
Das alles ging ihm verloren, als sie stärker wurde. Sie schaffte einen wichtigen Durchbruch: Jemand vom Royal Opera House in London war in der Stadt, hörte sie singen, sprach sie an und zeigte Interesse. Sie war clean und fühlte sich rundherum wohl. Sie dankte Abe für seine Freundschaft, seine Hilfe und traf Vorkehrungen, um in eine eigene Wohnung zu ziehen.
Abe konnte damit nicht umgehen. Konnte nicht ertragen, dass
sie ihn nicht mehr brauchte, dass er die Kontrolle über sie verlor. Wurde nicht damit fertig, dass sie einen eigenen Traum verfolgte, eine Vision für ihr Leben hatte, die nichts mit ihm zu tun hatte.
Also drohte er ihr, bei ihren Eltern anzurufen und ihnen zu erzählen, dass sie als Prostituierte arbeitete.
Aus irgendeinem Grund hatte Abe das starke Bedürfnis, alle Frauen, die in seinen Dunstkreis gerieten, unter Kontrolle zu bekommen. Er köderte uns, indem er auf unser Mitleid spekulierte. (»Peach ruft erst eine Stunde später zurück! Sie versteht nicht, wie das ist, wenn man behindert ist. Ich bin nicht wie die anderen.«) Er verstärkte die illusorische Beziehung, indem er schmeichelte, an unser Mitgefühl appellierte oder sich hilfsbereit gab – was gerade am besten ankam.
Ich hatte mich einmal über das traurige kulturelle Niveau in meinem Umfeld beklagt; darauf baute er auf, spielte mir schöne Opernaufnahmen vor und präsentierte sich als weit größerer Schöngeist, als er tatsächlich war. Für Anne wurde er zum sicheren Hafen. Für andere Callgirls schlüpfte er in andere Rollen. Dann wendete er sich gegen uns. Er erpresste uns, indem er drohte, mit Peach zu reden oder andere Informationen zu nutzen, die wir ihm arglos gegeben hatten, falls wir nicht taten, was er wollte.
Er machte es auch mit Peach, wie ich eines Tages zu meiner Verblüffung erfuhr. Ich hatte eigentlich angenommen, dass sie gegen solche Angriffe immun sei. Doch auch Peach hatte natürlich ihre Achillesferse – bei ihr war es das Geld. Abe war ein treuer Stammkunde und setzte seine gesamte Behindertenrente ein, um sich angenehme Gesellschaft zu verschaffen. Also ertrug sie seine
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