Callgirl
meinen inneren Kern, als in allen meinen früheren Therapiesitzungen oder irgendeiner meiner unzähligen Psychologiekurse.
Ich hatte Glück mit Luke. Man braucht eine starke Partnerschaft, um sich voll und ganz auf eine gesunde Bondage & Discipline-Beziehung einzulassen. Aber das heißt nicht, dass man nicht einzelne Elemente dieser sexuellen Spielart ausprobieren und unabhängig von einer Partnerschaft erleben kann. Die Handschellen sind ein äußerst beliebtes Objekt, und ich glaube, dass viele Männer gern ein bisschen weiter gegangen wären, um verbotene Spielzeuge und Spiele auszuprobieren, sich jedoch nicht zu fragen trauten. Nicht mal ein Callgirl.
Tatsache ist, dass sich die sexuellen Bedürfnisse und Wünsche
der meisten Kunden in gewissen vorhersehbaren Grenzen bewegten. Was sie im Großen und Ganzen wollten (oder jedenfalls bekamen, wenn sie nicht den Mut hatten, nach etwas anderem zu fragen), war relativ fader Sex. Unterschiedliche Positionen, gewiss. Ungewöhnliche Orte: auf dem Küchentisch, in der freien Natur, am Türrahmen im Stehen, auf irgendeinem Sportgerät. Außerdem jede Menge verbale Obszönitäten: Viele fuhren auf schmutzige Ausdrücke ab, die sie selbst vielleicht nicht in den Mund zu nehmen wagten.
Ich war offen für alle möglichen ungewöhnlichen, versauten oder schrägen sexuellen Varianten. Was ich noch nicht wusste, las ich mir an. Viele der Sachen, die ich las, hätten die meisten unserer Kunden fürchterlich schockiert.
Verständlicherweise. Viele der Sachen, die ich las, haben mich selbst fürchterlich schockiert.
Ich rüttelte mich aus meinen Tagträumen wach, sammelte meine Bücher und meine Aktentasche zusammen und ging den Collegeflur entlang. Leer, natürlich. Nur noch ein paar Abschlussprüfungen, und dann winkte die Freiheit … und falls tatsächlich irgendjemand für die Abschlussprüfungen lernte, dann nicht auf dem Campus.
»Du wirst allmählich zu einem richtigen Sauertopf«, schimpfte ich mich selbst. »Bloß weil du im Grundstudium eine alte Streberin warst, heißt das ja nicht, dass alle anderen es auch sein müssen. Leben und leben lassen. Es führen viele Wege nach Rom. Bilde dir nicht leichtfertig ein Urteil über andere.« Ich schwieg einen Moment. »Und benutze nicht so viele abgedroschene Phrasen«, fügte ich hinzu.
Im Handschuhfach meines Wagens lag eine Packung Excedrin. Ich griff mit der Inbrunst eines Gläubigen danach, der ein Heiligenbild berührt. Ich schluckte drei Stück auf einmal, nur um auf Nummer sicher zu gehen.
Als ich nach Allston zurückfuhr und ungeduldig wartete, dass
die Wirkung des Excedrins einsetzte, dachte ich noch einmal, wie paradox es doch war, dass ich fast so etwas wie Enttäuschung verspürte, weil unsere Kunden so wenig Wert auf Fetische oder ungewöhnliche sexuelle Praktiken legten. Das bedeutet, sagte ich streng zu mir selbst, dass du ein bisschen Pep in deinem Privatleben brauchst. Du kannst ja wohl nicht erwarten, dass die Kunden dir geben, was dir fehlt.
Und was gefällt den Kunden (wenn wir einmal großzügig über individuelle Unterschiede hinweggehen)?
Ich weiß eher, was ihnen nicht gefällt. Sie sind extrem eigen, was das Äußere betrifft, und mögen keine Frauen, die zu weit von einem ziemlich klar definierten Schönheitsideal abweichen. Merkwürdigerweise wollen die allermeisten Männer vor allem keine Frau, die ein Piercing hat, obwohl ich denke, dass sich ihre Abneigung hauptsächlich auf Knöpfe in Bauchnabel, Augenbrauen und Lippen bezog, was in der Tat ein bisschen abschreckend wirken kann. Sie waren aufgeschlossener im Hinblick auf Piercings in Nippeln und Schamlippen, obwohl sich auch dafür nicht jeder begeistern konnte. Was natürlich bedeutete, dass sie aus einer kleineren Anzahl von Callgirls wählen mussten, denn zu jener Zeit schienen fast alle Frauen in Boston, die um die 20 waren, mindestens ein ungewöhnliches Piercing zu tragen. Einige sahen tatsächlich danach aus, als wären sie mit einer offenen Kiste voller Angelzeug die Treppe heruntergefallen, wie Harlan Coban einmal so schön formulierte.
Doch das Piercing ist ein Fetisch, der ausschließlich den jungen Leuten vorbehalten ist. Da die meisten unserer Kunden in »einem gewissen Alter« waren, wie die Franzosen zu sagen pflegen, war es unwahrscheinlicher, dass sie die metallischen Verzierungen mit derselben Begeisterung aufnahmen wie die jugendlichen Altersgenossen der Mädchen.
Fast alle Kunden waren Kontrollfreaks, was vermutlich
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