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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Angell
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alles in allem nicht unangenehm. Bei weitem nicht so unangenehm wie einige der Verabredungen, die ich in der Vergangenheit von mir aus getroffen hatte.
    Keiner der Kunden verfügte über eine besonders sprühende Persönlichkeit. Ehrlich gesagt waren die meisten unglaublich blass und durchschnittlich. Einer war grob und rücksichtslos. Ein anderer beendete jeden zweiten Satz mit der Bemerkung: »Oh, das verstehst du wahrscheinlich nicht. Ich rede ja schließlich nicht mit Einstein, was?« Ich war noch neu in dem Job und
konnte mir irgendwann nicht mehr verkneifen, darauf zu antworten: »Stimmt. Einstein hat nicht in Anthropologie promoviert. Ich schon.« Danach war der Typ ziemlich still.
    Aber die Wahrheit ist, dass die Männer alles in allem keine schlechten Menschen waren. Durchschnittlich, nicht sonderlich attraktiv, mit fragwürdigen sozialen Fähigkeiten, ja. Langweilig, berechenbar, voller Unsicherheiten, die sie auf mich projizierten, gewiss. Aber sie waren nicht besonders seltsam oder Furcht erregend oder verabscheuungswürdig. Mit genau solchen Männern hatte ich mich früher ohne finanzielle Entschädigung getroffen.
    Etwa einen Monat, nachdem ich regelmäßig für Peach arbeitete und etwa drei bis vier Mal in der Woche für sie unterwegs war, unterrichtete ich wie üblich an einem Donnerstag mein Seminar »Über Tod und Sterben«. Wir näherten uns dem Ende des Semesters, was immer meine Lieblingszeit war, weil ich in etwa überblicken konnte, welche Themen zur Sprache gekommen waren, welche neuen Ideen wir gemeinsam entwickelt hatten und zu welchen kreativen Unternehmungen ich die Kursteilnehmer angeregt hatte. Die Studenten wussten, dass ihre Endnote zum Teil von einem Abschlussprojekt abhing, das sie entweder allein oder in einer Gruppe in Angriff nehmen konnten. Es sollte eine Arbeit zu einem Thema sein, von dem sie fasziniert waren, das ihr Interesse oder ihre Leidenschaft geweckt hatte. Wenn die Projekte vorgestellt wurden, erlebte ich immer wieder Erstaunliches.
    Auch an diesem Donnerstag wurde ich nicht enttäuscht.
    Karen, eine der wenigen Studentinnen in dem Kurs, die keine Krankenschwester war, hatte ein eigenes Projekt auf die Beine gestellt. Sie war zu einem Hospiz gegangen, hatte dort sterbende Aidspatienten interviewt und die Gespräche auf Video aufgenommen. Während der Gespräche hatte Karen, die von Beruf Malerin war, die Porträts dieser Menschen gezeichnet. (Später verschenkte sie die Bilder in einer großzügigen Geste an die Patienten, aber das ist eine andere Geschichte).

    Ich denke, jeder im Raum war fasziniert und ergriffen von dem Film. Die Patienten erzählten mit bewegenden Worten von ihrem Schicksal, und in ihren Stimmen schwangen die unterschiedlichsten Gefühle mit, ob Mut, Angst, Gelassenheit oder Zorn … Wir hörten ihnen zu und starrten wie gebannt auf diese schönen, aber vom Schmerz gezeichneten Gesichter, den gequälten Ausdruck in den Augen, die hohlen Wangen. Ich sah mich im Raum um, sah die Tränen, sah die gespannte Aufmerksamkeit, sah das Mitgefühl und spürte eine Welle der Zuneigung für meine Studenten.
    Und urplötzlich, ohne dass ich hätte sagen können warum, mitten in diesem wundervollen, ganz besonderen Moment blitzte vor meinem inneren Auge die vergangene Nacht auf, die Wohnung in Chestnut Hill, die gepflegte skandinavische Einrichtung und der Kunde, der sagte: »Du dozierst über Tod und Sterben? Mensch, das ist heiß. Der Tod ist das beste Aphrodisiakum, das man sich vorstellen kann!«
    Ich schob das Bild beiseite, blendete es so schnell wie möglich aus, entsetzt darüber, dass es in diesem Moment aufgetaucht war. Ich hörte die Stimme eines Mannes, der über den Verlust seiner Freunde sprach und wie schmerzlich es für ihn sei, dass seine Mutter Angst hatte, ihn zu berühren. Meine Wangen glühten. Mitten in diesem wichtigen Augenblick, während ich den Beruf ausübte, zu dem ich mich berufen fühlte, hatte ich mich innerlich abgewandt. Ich hatte mich so real abgewandt, als hätte ich die Tür geöffnet und den Seminarraum verlassen. Ich hatte Karens wundervolle Arbeit verraten, und ich hatte mich selbst verraten.
    Ich wusste nicht, was ich mit dieser Erkenntnis anfangen sollte.
    Ich wollte nicht darüber nachdenken.
    Ich versuchte, die Angelegenheit zu vergessen.
     
    Wer daran glaubt, dass einige Sünden sofort bestraft werden, hätte seinen Glauben an diesem Abend bestätigt gefunden. Die Strafe folgte auf dem Fuß, als ich einen Kunden in

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