Callgirl
Back Bay traf.
Back Bay ist ein vornehmes Viertel von Boston – alte Sandsteinhäuser, alte Familien, altes Geld. Die Häuser gleichen den teuren Wohnungen in Paris oder Budapest – sie werden vererbt oder verkauft, aber auf keinen Fall vermietet.
Das Viertel befindet sich am noblen, von Bäumen gesäumten Ende der Commonwealth Avenue. Dieser Teil unterscheidet sich erheblich von jenem in der Nähe von Allston, wo ich wohnte und wo man die Geräusche der quietschenden Straßenbahn, der spanischen Märkte und russischen Apotheken hört. Dieser Abschnitt der Commonwealth Avenue mündet in eine öffentliche Parkanlage und macht einen glauben, man befände sich mitten in Paris, weil er nach dem Vorbild von Haussmans Pariser Boulevards gestaltet wurde.
Back Bay – das ist Beacon Street mit verschnörkelten Eisenzäunen, Treppen und Balkonen und Marlborough Street mit Oberlichtern über Türrahmen aus schwerem Eichenholz, das sind Gaslaternen an Straßenecken und der leise in der Ferne vorbeirauschende Verkehr auf dem Storrow Drive. Man geht diese Straßen entlang und fragt sich, wer wohl hinter den französischen Sprossenfenstern mit den dicken Samtvorhängen wohnt. Man stellt sich kultivierte Menschen vor, die an einem Winterabend mit einem Cognacschwenker in der Hand über Rimbaud und Verlaine oder über Hofstadter und Minsky diskutieren.
Zumindest mit der Beacon Street hatte ich schon einmal ansatzweise Bekanntschaft gemacht. Als ich noch an meiner Dissertation schrieb, arbeitete ich einige Semester lang als Assistentin bei einem Professor, der dort wohnte, und ich kam regelmäßig bei ihm vorbei, um korrigierte Klausuren abzugeben. An den Wänden seiner langen, dunklen Wohnung hingen riesige düstere Gemälde in dicken vergoldeten Rahmen, dicht an dicht, so dass man kaum die Tapete dahinter erkennen konnte. Der Boden war mit handgeknüpften orientalischen Teppichen ausgelegt, die Möbel aus schwerem Mahagoni gefertigt und die Bücher alle in Leder
gebunden. Manchmal bot der Professor mir eine Tasse Tee an, eine köstliche Mischung, die ich nicht kannte und die ich seither nie wieder getrunken habe.
Von daher empfand ich höchstens so etwas wie leichte Vorfreude, als Peach mich in die Beacon Street schickte. Als ich den Kunden angerufen hatte, um die Einzelheiten zu besprechen, war er nicht besonders nett gewesen, aber was das anging, stellte ich gerade meine eigene Theorie auf. Nach dieser Theorie entpuppten sich die Männer, die am Telefon besonders unausstehlich waren, hinterher im Allgemeinen als die nettesten und umgekehrt.
Ein weiterer Irrtum.
Doch an jenem Abend ging ich noch von meiner Hypothese aus und legte nicht jedes Wort des Mannes auf die Goldwaage.
»Worauf stehst du?«
Obwohl ich erst so kurze Zeit in dem Geschäft war, hatte ich gegen diese Frage bereits eine Aversion entwickelt. Es ging nie darum, was mir gefiel, sondern immer um das, was dem Kunden gefiel, und manchmal erwies sich dieser Auftakt als kniffliger Test, als Fangfrage oder als Methode, mich etwas sagen zu lassen, das der Mann dann auseinander pflücken konnte. Ich lernte allmählich, was in den Köpfen der Kunden vorging.
Ich räusperte mich. »Ich stehe auf die unterschiedlichsten Sachen. Ich bin sicher, dass du mir gefallen wirst. Warum lässt du mich nicht einfach zu dir kommen, und wir schauen mal, was uns beiden gefällt?«
Die Wohnung lag im vierten Stock und bot einen direkten Blick auf den Charles River. Als ich ankam, stellte ich mich sofort mit einem kleinen Begeisterungsruf ans Fenster. Die meisten Männer mögen es, wenn man etwas Nettes über ihre Wohnung sagt. Und diese war wirklich ein Traum.
Eingestreut in die Dunkelheit, die sich vor mir und unter mir erstreckte, leuchteten unzählige Stecknadelköpfe von strahlender
Helligkeit, warmes gelbes Licht fiel aus den Fenstern in die Nacht, am anderen Ufer des Flusses blinkten rote Lampen auf den Dächern der Gebäude, und im Wasser selbst spiegelten sich glitzernde Bilder.
Der Kunde, der auf den Namen Barry hörte, bezahlte mich nicht dafür, dass ich den schönen Ausblick genoss. Das weiß ich so genau, weil er es nicht nur sagte, sondern mich auch am Arm packte und vom Fenster wegzerrte. Er riss mich an sich und griff dabei so brutal zu, dass sich die Abdrücke seiner Finger später deutlich auf meiner malträtierten Haut abzeichneten.
Nach diesem ersten Kuss hatte ich auch am Mund blaue Flecken.
Barry drückte mich gegen eine Mauer mit unebener Oberfläche,
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