Callgirl
(oder meiner unabhängigen Obsession, wenn man so will) einiges darüber gelesen, wie die Prostitution mitunter zum Vorwand genommen wurde, um Frauen für unzurechnungsfähig zu erklären, und empfand noch leidenschaftlichere Wut als sonst. Ich räume ein, dass ich die Sache vielleicht nicht streng wissenschaftlich oder objektiv betrachtete.
Einige Frauen in dem Kurs waren über das Gelesene noch erzürnter als ich. Das war bei dieser Thematik fast immer so und gehört für mich zu den Highlights, den wirklichen Freuden des Unterrichtens: Man gibt Menschen Informationen, die sie vorher nicht hatten, und weckt ihre Leidenschaft. Sag die Wahrheit und schau zu, wie sie Menschen verändert.
Vielleicht verändert sie sogar irgendwann die Welt.
Unter den Kursteilnehmern entbrannte also wie erwartet eine
hitzige Diskussion, an der sich fast alle beteiligten. Es ist ziemlich schwierig, die bewegenden Geschichten dieser Frauen zu lesen und nicht in irgendeiner Weise emotional darauf zu reagieren. Ich ließ sie diskutieren, wanderte dabei durch den Raum, ließ hier und da einen Kommentar einfließen, stellte ab und zu eine Frage. Mit der Zeit schweiften die Teilnehmer vom eigentlichen Thema ab, aber ich ließ sie gewähren, weil mich interessierte, welche Richtung die Diskussion nehmen würde.
»Das spielt eigentlich keine Rolle mehr, oder? Es ist Geschichte – heute passieren solche Sachen nicht mehr.«
»Machst du Witze? Es nimmt heute nur andere Formen an. Es ist weniger offensichtlich, aber im Grunde hat sich überhaupt nichts verändert.«
»Könntest du vielleicht genauer erklären, was sich seither nicht verändert hat?«, fragte ich harmlos.
»Was sich nicht verändert hat? Was sich verändert hat, ist doch die eigentliche Frage. Die Leute denken immer noch, dass es etwas Anormales und Unnatürliches ist, wenn Frauen nicht genau das tun, was sie tun sollen!«
»Das ist doch Quatsch! Frauen nehmen heute Führungspositionen ein, leiten Unternehmen und alles!«
»Was sollen Frauen denn tun?«, hakte ich nach.
»Alles!«, lautete die heftige Reaktion. »Sie sollen alles tun, sie sollen alles sein und trotzdem nicht bedrohlich wirken, sondern sich freundlich und fürsorglich um ihre Mitmenschen kümmern. Sie sollen sexy sein. Sie sollen die Traumfrau schlechthin verkörpern und gleichzeitig eine genauso gute Köchin sein wie die Schwiegermutter! Sie sollen sich Kinder wünschen, und wenn sie keine Kinder wollen, sondern lieber Karriere machen möchten, gelten sie als egoistisch, selbstsüchtig und unnormal. Mich würde man wahrscheinlich auch in eine Anstalt stecken, wenn ich vor 100 Jahren gelebt hätte.«
Eine weitere Frau stimmte zu: »Und die Sexualität spielt auch
eine Rolle dabei. Männer kamen ins Gefängnis, weil sie etwas getan hatten, Frauen wurden eingesperrt, weil sie zu sexy aussahen. Wenn du einen Rock anziehst, der zu kurz ist, oder Blusen, die zu tief ausgeschnitten sind, oder zu viel Make-up oder Schmuck trägst, verstößt du gegen die Erwartungen, also wirst du bestraft, wirst mit Schimpfnamen belegt.«
Ich sah sie an: »Was für Schimpfnamen?«
Achselzucken. »Sie wissen schon. Nutte. Schlampe. Flittchen. Entweder du entsprichst dem Bild, das sie von dir haben, oder du erntest Beleidigungen.«
»Aber du kannst es sowieso nie richtig machen, nie wirklich gewinnen, weil die Männer diese andere Seite auch wollen! Sie wollen, dass du dich wie eine Nutte verhältst, und beschimpfen dich gleichzeitig dafür.«
»Das ist der wahre Unterschied gegenüber früher«, meinte eine weitere Studentin. »Heute werden wir nur beleidigt, wenn wir von der Norm abweichen. Damals wurden die Frauen dafür eingesperrt.«
Die Diskussion ging weiter, doch meine Gedanken gingen ihre eigenen Wege. Ich wusste, dass es stimmte, was sie sagten, aber es kam mir vor, als hörte ich es zum ersten Mal. Jedenfalls war es das erste Mal, dass ein solches Gespräch mich persönlich betraf. Eine Frau als Prostituierte zu bezeichnen, war auch heute noch eine Beleidigung. Sogar meine Studenten sagten das, also musste es stimmen.
Ich gab ihnen eine schriftliche Hausaufgabe, trug ihnen auf, ihre Gedanken, ihre Wut und ihre Leidenschaft zu Papier zu bringen, weil ich wusste, dass sich in ihren Worten echte Gefühle widerspiegeln würden – tiefe Wut bei den Frauen und bei den Männern das Gefühl, zu Unrecht angegriffen zu werden. Ich setzte mich an den Schreibtisch und betrachtete stirnrunzelnd meine Kladde. Ich hatte immer
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