Callgirl
wenn irgendjemand wüsste, dass ich auch als Callgirl arbeite, könnte ich meine Laufbahn als Hochschullehrerin vergessen. Nicht einmal die Colleges niedrigsten Niveaus würden mich weiter beschäftigen. Niemand könnte erklären, warum die beiden Tätigkeiten unvereinbar sind, aber jeder wäre fest davon überzeugt. »Ich kann vielleicht nicht genau definieren, was Pornografie ist, aber ich erkenne sie, wenn ich sie sehe.« Genau.
Oder betrachten wir folgenden Fall, um die Argumentation noch stichhaltiger zu machen: Beth, eine der Hostessen bei Peach, unterrichtete an einer Mittelschule – in der siebten und achten Klasse. Wir wissen alle, dass sie genau dieselbe Lehrerin ist, die sie war, bevor ich Ihnen erzählt habe, dass sie am Wochenende für Peach arbeitet. Richtig? Und niemand glaubt wirklich ernsthaft, dass sie ihre Schüler zum Sex verführt oder zur Pornografie anregt (als ob Siebt- und Achtklässler überhaupt irgendeine Anregung in diese Richtung bräuchten!). Ich meine, wo liegt das Problem, abgesehen von den damit verbundenen ethischen
Fragen? (Und meine Erfahrung ist, dass sich die Frauen bei Peach weit mehr Gedanken über Ethik machen als irgendeine andere Personengruppe, die ich kenne.) Siebt- und Achtklässler können sich die Preise bei Peach nicht leisten … Also gibt es eigentlich gar keinen Grund, weshalb Beth nicht beides tun sollte – als Lehrerin und als Callgirl arbeiten. Theoretisch.
Die Theorie hat erstaunlich wenig mit der Praxis zu tun.
Lassen Sie uns noch einen Schritt weiter gehen: Als toleranter, aufgeschlossener Mensch tun Sie das Ganze vermutlich mit einem Achselzucken ab: Sicher, Ihretwegen soll Beth in der Woche unterrichten und am Wochenende für eine Begleitagentur arbeiten. Warum nicht? So ist das eben im Kapitalismus. Aber beantworten Sie mir bitte eine Frage: Wären Sie damit einverstanden, dass Ihr eigenes elfjähriges Kind von einer Frau unterrichtet wird, die nicht nur als Lehrerin, sondern auch als Prostituierte arbeitet?
Seien Sie ehrlich.
Erwischt! Damit schließe ich meine Beweisführung.
Callgirls diskutieren untereinander häufiger über moralische Fragen als irgendeine andere Berufsgruppe, zu der ich Zugang habe. Sogar häufiger als Priester und Pfarrer und Rabbiner, weil diese Leute über Religion diskutieren, was doch wieder eine Geschichte für sich ist. Ich kann mich an unzählige Gespräche erinnern … ob in meinem Auto, während wir auf Kunden warteten, bei einem Drink im Jillian’s oder bei einem Kaffee im Buchladen Triton. Wir rangen mit den unterschiedlichsten Fragen, machten uns Gedanken über die Ehefrauen und was wir ihnen antaten; sprachen darüber, wie man sich verhalten sollte, wenn Peach meinte, man schulde ihr 120 Dollar, obwohl man 180 Dollar in der Tasche hatte; erzählten, wie weh es jedes Mal tat, den Freund anlügen zu müssen. Wir überlegten, ob ein Callgirl sonntags in die Kirche gehen und ihre Tätigkeit beichten sollte; fragten uns, wie es mit moralischen Grundsätzen zu vereinbaren sei, dass wir
die Verletzlichkeiten eines Mannes auskundschafteten, um dieses Wissen zu unserem Vorteil zu nutzen. Wir diskutierten häufiger über moralische Grundsätze als über irgendein anderes Thema – einschließlich Geld -, und ich bin mir nicht sicher, ob irgendeine von uns je eine Antwort auf all diese Fragen fand. Aber sie waren etwas sehr Reales für uns, mit dem wir uns intensiv beschäftigten. Und das ist einer der Gründe, weshalb ich immer noch in Rage gerate, wenn ich höre, wie sich jemand über Prostituierte und ihre unterentwickelte Moral lustig macht. Wenn überhaupt legen wir weit höhere Maßstäbe an als die meisten anderen Menschen.
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass wir unsere Probleme nicht so gut verstecken können wie die meisten anderen Leute. Für Affären und Seitensprünge lassen sich immer zahllose Rechtfertigungen finden. Gaunereien im Geschäftsleben oder bei der Steuererklärung kann man schönreden. Bei uns sind diese Möglichkeiten drastisch eingeschränkt. Versuchen Sie mal, im Wohnzimmer eines Typen zu sitzen und mit ihm rumzumachen, während Sie die ganze Zeit von einem Foto herab seine angeblich glückliche Familie anstarrt. Es hat mich nie davon abgehalten, meinen Job zu tun. Aber es hat immer einen Haufen verstörender Fragen in mir ausgelöst. Und auch noch so viele Erklärungen und Rechtfertigungen – oder Martinis – brachten sie nicht wie durch Zauberhand zum Verschwinden. Ich musste mich
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