Callgirl
damit auseinander setzen. Wir alle mussten das. Vielleicht spielen Alkohol und Kokain auch deshalb eine so große Rolle in unserem Gewerbe. Angesichts all der Niedertracht, der man begegnet, muss man sich manchmal ein bisschen betäuben.
Aber zurück zu Seth. Wir hatten etwa zwei Drittel der Champagnerflasche geleert, als er auf seine Rolex schaute. »Tja, so schön es ist, ich denke, es wird langsam Zeit.«
Unser Tisch bei Morton war für halb acht reserviert. Meinte er wirklich, man würde uns an einem Donnerstagabend den Platz
streitig machen? So kosmopolitisch ist Boston nun auch wieder nicht, und ich fühlte mich gerade so richtig schön entspannt. »Ach, komm schon, Seth, lass uns erst in Ruhe den Champagner austrinken.«
Er stand auf, griff in seine hintere Hosentasche und zog seine Brieftasche heraus. Er nahm einige Geldscheine heraus – ich konnte die Wertbezeichnungen darauf nicht erkennen -, kam zu meinem Platz herüber und legte sie direkt neben meine Champagnerflöte auf den Tisch. »Nein, ich will nur sichergehen, dass wir vorm Dinner noch genügend Zeit haben«, sagte er und zog ein bisschen zerstreut an seinem unvorteilhaften Schlips.
Hatte der Champagner vorübergehend meine gesamten Gehirnzellen lahm gelegt oder bin ich einfach unglaublich naiv? Ich schaute zu ihm hoch. Wahrscheinlich habe ich wie eine Idiotin ausgesehen. Ich klang jedenfalls wie eine: »Zeit wofür?«
Und ich hatte noch immer nicht begriffen, worauf er hinauswollte. Sie, geneigter Leser, werden es inzwischen erraten haben. Für eine Frau, die sich sehr zynisch über die Weltpolitik äußert, die scharfsinnig historische Zusammenhänge deutet und die ihrer Arbeit in der Sexindustrie durchaus aufgeklärt gegenübersteht, bin ich im Grunde immer noch ein unglaublich vertrauensseliger und leichtgläubiger Mensch. Mein Ex fragte mich einmal: »Hey, wusstest du eigentlich, dass das Wort ›leichtgläubig‹ gar nicht im Wörterbuch steht?« Ungläubig und entrüstet war ich schon fast beim Bücherregal, bevor ich den Schalk in seinen Augen sah.
Man müsste mich einsperren, zu meinem eigenen Besten.
Seth blieb neben meinem Sessel stehen, stellte sein Champagnerglas auf den Beistelltisch neben die Hundertdollarscheine, die er gerade hingeblättert hatte, und schnallte ohne weiteres Aufhebens seinen Gürtel auf. »Ich wollte sichergehen, dass du noch genug Zeit hast, um mir einen zu blasen«, sagte er.
Wissen Sie, wie das ist, wenn man einen Autounfall hat und
die letzten Sekunden vor dem Aufprall plötzlich wie in Zeitlupe ablaufen? Von einem Moment zum anderen steht Ihnen die Situation kristallklar vor Augen, und es gibt nur noch Sie selbst und den Strudel der Ereignisse, der Sie unweigerlich ins Verderben zieht. Trotzdem beobachtet man das Ganze fast gleichgültig, als ob es nichts mit einem selbst zu tun hätte, als ob es ein Film wäre. Und das, obwohl man sich Sekunden vorher gesagt hat: »Oh, nein. Scheiße. Nein, lieber Gott, lass es nicht wahr sein.« Gleichzeitig bestreitet ein anderer Teil des Gehirns sämtliche Sinneswahrnehmungen, zieht alle Register der Verleugnungskunst, blendet die Realität aus und behauptet, dass das alles gar nicht wahr ist, gar nicht wirklich passiert. Das ist im Grunde die wahre Hühnerbrühe für die Seele. Vergesst die ganzen schlauen Bücher und gebt mir lieber jeden Tag eine ordentliche Portion Verleugnung.
Dieser Teil des Gehirns schaltet sich normalerweise aus, sobald es zum Aufprall kommt. Sogar die beste Verleugnung vermag wenig Kreatives gegen die tatsächliche Wucht des Zusammenstoßes, gegen verkeiltes Metall und den Geruch und die Farbe von Blut auszurichten.
Bei Menschen, die immer alles unter Kontrolle haben wollen, läuft die Zeitlupe vermutlich besonders langsam ab.
Wie auch immer, genau so erging es mir an diesem Donnerstagabend im Ritz-Carlton. Ein Teil meines Gehirns sprach mit ruhiger und vernünftiger Stimme, versicherte mir, das alles sei nicht real, finde gar nicht wirklich statt. Es war alles ein Missverständnis. Nein. Nein. Wenn ich doch bloß ganz still dasitzen könnte und nicht mehr atmen müsste. Dann würde ich feststellen, dass es nur ein böser Traum war.
Gleichzeitig registrierte ein anderer Teil meines Gehirns mit erschreckender Klarheit, was hier zu Ende ging und wie furchtbar dieser Verlust für mich war. Ich musste zusehen, wie mir alles entglitt – Seth, unsere jahrelange Freundschaft, die Geborgenheit,
die ich empfunden hatte, mein Vertrauen in seine
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