Callgirl
Wissenschaft und Wirklichkeit. Tagsüber saß ich zwischen Bücherstapeln in der Bibliothek der Bostoner Universität, machte mir Notizen, und wartete auf den magischen Moment, zu dem es unweigerlich kommt, wenn all die diffusen Informationen plötzlich eine Gestalt in meiner Vorstellung annehmen. Dann sehe ich auf einmal klar vor mir, wie ich die Sache präsentieren muss, so als würde sich ein heller Pfad vor mir auftun. Nachts ging es auf die Piste. Wenn ich in der Bibliothek ankam,
war ich für gewöhnlich schon für die Arbeit umgezogen; es war einfacher, direkt von der Commonwealth Avenue zu starten, als noch einmal den ganzen Weg nach Allston zurückzulegen, um mich umzukleiden.
Eines Abends, als ich merkte, dass ich schon seit einer halben Stunde nichts mehr von meiner Lektüre aufgenommen hatte, weil ich so müde und hungrig war, hastete ich zum Aufenthaltsraum für die Studenten, um dort eine Kleinigkeit zu essen. Als ich in Boston studiert hatte, war der Aufenthaltsbereich eine simple Cafeteria gewesen. Jetzt wirkte das Ganze wie eine der edlen Fresszeilen in den Einkaufspassagen – vielleicht damit die Kids, die ihre Freizeit in den Konsumtempeln verbringen, sich gleich heimisch fühlen können, wenn sie ans College kommen und nicht wehmütig ihrer verlorenen Jugend nachweinen müssen. Gott bewahre uns davor, irgendetwas Schwieriges von ihnen zu verlangen.
Ich kaufte mir ein Sandwich und holte mir ein Wasser aus einem Kühlautomaten, der sich auf sehr kleine, dafür aber teure exotische Säfte spezialisiert zu haben schien, und setzte mich an einen Tisch.
Es dauerte eine Weile, bis mir auffiel, dass der Typ vom Nebentisch zu mir herübersah. Ich hatte den Teil meines Gehirns, der für die Wahrnehmung von Männern, fürs Flirten und ähnliche Aufgaben zuständig ist, abgeschaltet oder zumindest sehr leise gestellt. Als ich endlich bemerkte, was sich abspielte, war ich ehrlich gesagt schockiert.
Ich war ja vielleicht daran gewöhnt, mit blutjungen Burschen in meinen Kursen umzugehen; ich war ja vielleicht auch daran gewöhnt, dass Männer mich attraktiv fanden. Aber ich war nicht daran gewöhnt, dass beides auf einmal passierte. Doch wenn mich nicht alles täuschte, war dieser Student gerade im Begriff, zu mir herüberzukommen.
Und das tat er. Er erkundigte sich nach meiner Lektüre. Er sagte,
dass ihm meine leere Kaffeetasse aufgefallen sei, und bot mir an, sie aufzufüllen.
Unser kleines Tête-à-tête wurde abgebrochen, bevor es so richtig in Gang kam, weil mein Handy klingelte. Es war Peach. »Arbeit«, lautete ihre ökonomische Botschaft. »Ein Typ oben in Chestnut Hill.«
Ich machte mir so diskret wie möglich Notizen und beendete das Telefonat. »Ich muss los«, sagte ich zu dem kleinen Studenten. Er hatte einen Pferdeschwanz. Ich habe ein Faible für Pferdeschwänze.
»Wollen wir den Kaffee vielleicht später trinken?«, fragte er. »Es war schön, mit dir zu reden. Vielleicht könnten wir unsere Unterhaltung nachher fortsetzen.«
»Tut mir Leid«, sagte ich und meinte es tatsächlich so. Es machte Spaß, zur Abwechslung mal weder Callgirl noch Dozentin zu sein. Ich strich glättend über meinen Rock und erhob mich. »Es war nett mit dir.«
Und das stimmte. Das richtige Leben hatte kurz hereingeschaut und mit der Aussicht gewunken, dass es da draußen in der wirklichen Welt womöglich gar nicht so schlecht war. Dass es irgendwo vielleicht einen Platz für mich gab, wenn ich dies alles hinter mir hatte. Dass junge Männer mich interessant und attraktiv fanden, auch wenn sie nicht über meine Maße informiert waren – oder über meine Fähigkeit, Zensuren zu verteilen.
Die Begegnung löste fast so etwas wie ein zärtliches Gefühl in mir aus, eine Art Sehnsucht und den nachklingenden Gedanken, dass vielleicht, nur ganz vielleicht … Es war bittersüß. Ich habe tatsächlich in Gedanken genau dieses Wort benutzt: bittersüß. Ich hatte vorher nie wirklich verstanden, was es bedeutet, nämlich, dass man sich mit halbem Herzen nach etwas sehnt, von dem man weiß, dass man es nicht haben kann.
Ich kannte natürlich die Wahrheit: Wenn ich die Gelegenheit ergriffen hätte, wäre mir bewusst geworden, dass es gar nicht das
war, was ich wollte. Vielleicht gefiel mir das Gefühl der Sehnsucht. Vielleicht gefiel mir das Wissen, dass da draußen Möglichkeiten warteten, dass die Welt sich immer noch drehte, dass sie es auch dann noch tun würde, wenn ich wieder für sie bereit war.
Lächelnd
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