Callgirl
am liebsten. Ein weiterer Unterschied zwischen den Geschlechtern, den ich nie begreifen werde.
Außerdem gefiel mir das Prinzip, nach dem Peach vorging. Der Kunde bezahlt nicht für Sex oder für bestimmte Spiele oder Verhaltensvarianten. Er bezahlt für eine Stunde von der Zeit des Callgirls. In dieser Zeit darf er so viele Orgasmen bekommen, wie er kann oder wie er lustig ist. Er kann reden, sich eine obszöne Geschichte erzählen lassen oder vögeln. Er kann so tun, als ob. Er kann auf einer gewissen Ebene die Illusion bewahren, dass die Frau mit ihm zusammen ist, weil sie ihn mag. Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorzug. Manche Klienten nahmen zwischendurch andere Agenturen in Anspruch (das einzig Beständige an den Kunden ist ihre Wankelmütigkeit), aber die meisten kehrten am Ende zu Peach zurück. Sie gab ihnen etwas, was die anderen nicht bieten konnten. Anerkennung. Träume. Fantasien. Illusionen.
Auf jeden Fall würde ich auf diesen Vorteil, den die Arbeit bei Peach bot, nicht einfach verzichten. Ich räusperte mich: »Nein, Peach, ich kann ihn nicht anrufen. Ich muss mich umziehen.«
Ein lauter Seufzer. Ich sollte wenigstens ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich ihr so viele Umstände machte. »Na gut, Jen, ich kümmere mich darum. Warte einfach auf Ben, ja?«
»Alles klar, Peach.«
Mark in Chelsea hatte den weiteren großen Pluspunkt, dass es ihm egal war, was ich anzog, solange man es schnell genug wieder ausziehen konnte, wenn es Zeit wurde, sich auf dem Wohnzimmerteppich zu wälzen. Viele Knöpfe waren out. Alles Bequeme war glücklicherweise in. Ich zog ein Paar Sandalen an und schlüpfte in ein leichtes Sommerkleid, das über einen problemlos zu öffnenden Reißverschluss auf der Vorderseite verfügte. Außerdem war es das kühlste Kleidungsstück in meinem Besitz. Wimperntusche. Einen Hauch Parfum. Darin erschöpften sich die Vorbereitungen.
Ben rief etwa eine halbe Stunde später an. »Ich warte unten.«
»Komme sofort.«
Ich schnappte mir meine Schlüssel und die Handtasche, die ich bei der Arbeit benutzte – kein Geld, keine Ausweispapiere, nur Lippenstift und Maskara, einige Papiertaschentücher und drei oder vier Kondome. Nur für den Fall.
Ben saß in einem großen alten amerikanischen Straßenkreuzer. Als Erstes fiel mir auf, dass alle Fenster heruntergekurbelt waren. Als Zweites fiel mir auf, dass bereits drei Frauen im Auto saßen. Beides versetzte mich nicht unbedingt in einen Begeisterungstaumel.
»Steig ein. Steig schon ein.« Ein bisschen ungeduldig, unser Ben. Ich wusste nicht genau, wo ich einsteigen sollte, öffnete dann aber die Rücktür und gesellte mich zu den Mädchen, die dort bereits saßen. »In Ordnung.« Er hatte eine Liste in der Hand. »Tracy zuerst. Brookline, richtig?«
»Ja. Coolidge Corner«, bestätigte eine Rothaarige, die am anderen Fenster auf der Rückbank saß, mit gedehnter Aussprache. Ben fuhr mit quietschenden Reifen vom Bürgersteig weg und riss gleich darauf den Wagen herum, um einem älteren Ehepaar auszuweichen, das doch tatsächlich den Nerv hatte, über einen Zebrastreifen gehen zu wollen. Dann schaltete er das Radio ein. Rap. Lauter, pulsierender Rap.
Merkwürdigerweise gab es einmal eine Zeit, in der ich diese Musik gern gehört habe. Das muss die Anthropologin in mir gewesen sein. Damals erschien mir die Botschaft aufrichtiger, authentischer, realitätsnäher. Das war, bevor die Texte davon handelten, Schlampen zu schwängern und Leute umzulegen, als der Rap noch eine Momentaufnahme, eine Botschaft, eine Widerspiegelung von Lebensschicksalen war, die in Armut und Hoffnungslosigkeit erdacht und erduldet wurden. Damals, als der Rap gelebte Erfahrungen widerspiegelte und nicht die schlimmsten Konsequenzen der Lebensumstände, die er vorher bezeugt hatte. Plötzlich fielen mir sogar wieder einige der Worte ein, die mein Denken und Fühlen beeinflusst hatten. »Rats in the front room, roaches in the back, I can’t take the smell, I can’t take the noise …« Wer hatte das noch gesungen? Ein seltsamer Name … richtig: Grandmaster Flash and the Furious Five. Damals in den Achtzigern, damals als es eher um Kommunikation und weniger ums Posieren ging, vor dem Gangsta Rap, der Verunglimpfung von Frauen, der Zelebrierung des Testosterons. Ich glaube, ich werde alt, dachte ich – beinahe hätte ich gesagt: Damals, als die Welt noch unschuldig war.
Wie meine Großmutter. Meine Großmutter hat immer gesagt, dass die Welt ihre
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