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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Angell
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verletzt worden. An den Glauben und die Hoffnung, sie zu retten, habe ich persönlich und materiell viel verloren.
    Ich erinnere mich an einen Dokumentarfilm, in dem jemand über Heroin sprach. »Wissen Sie was?«, sagte der Mann. »Wenn man sich das erste Mal einen Schuss setzt, kann man sich eigentlich gleich einen großen Umzugswagen mieten. Da kann man dann alles draufpacken – Haus, Freundin, Freundeskreis, einfach alles. Gleich weg mit dem Zeug. Dann ist man damit wenigstens durch. Denn letzten Endes läuft es sowieso darauf hinaus. Man denkt, bei einem selbst ist es anders. Aber das stimmt nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit.«

    Damals habe ich diese Worte nicht verstanden, aber nachdem ich erst einmal im Gewerbe war, habe ich die Message ziemlich schnell begriffen. Und es musste nicht unbedingt Heroin sein. Crack ist genauso schlimm.
    In der Theorie klingt das alles noch relativ harmlos. Doch wenn man etwas sucht, um sich damit die größten Herzensqualen zu bereiten, und wenn man sich für den Rest seines Lebens ein Mindestmaß an Albträumen sichern möchte, dann gibt es keine bessere Methode, als sich um einen Süchtigen zu kümmern. Sie werden nie wieder derselbe Mensch sein. Das verspreche ich Ihnen.
    Ich weiß nicht genau, wie ich meine Faszination von Sophie erklären soll. Ich liebte unsere Gespräche, ihre Einsichten, ihr spontanes, helles Lachen. Ich liebte die Art, wie sie sprach, wie sich in ihren Worten die Fähigkeit ihrer Muttersprache zum allegorischen und symbolischen Ausdruck widerspiegelte, wodurch ganz spezielle Gedankengebäude entstehen, die sich nur schwer in westliche Prosa übertragen lassen. Ihre Briefe lasen sich wie Haikus. Wenn sie sprach, hatte man das Gefühl, einer Dichterin zuzuhören, deren Worte klare Bilder von ungeahnten Dingen in der Vorstellung entstehen ließen.
    Wir arbeiteten, wie gesagt, so oft wir konnten zusammen. Aber wir trafen uns auch sonst häufig, wenn wir beide freihatten, ich von meinen Seminaren und sie von ihrem Teilzeitjob in einem stickigen Büro in Chinatown, wo sie tagsüber im fünften Stock einer gemeinnützigen Expertenorganisation saß und Wirtschaftsberichte übersetzte.
    Jedenfalls tat sie das am Anfang unserer Freundschaft.
    Einmal fuhren wir zum Walden Pond in Concord, folgten dem Pfad, der um den See führt. Es war Spätherbst, die letzten Blätter fielen von den Bäumen, und der Boden war mit buntem Laub bedeckt. Es raschelte und knackte unter unseren Füßen. Wir sahen einen Falken, der über dem See kreiste und sich mit ausgebreiteten
Flügeln von einer unsichtbaren Luftströmung tragen ließ, ruhig und wunderschön.
    Ehrlich gesagt hatte ich ihn zuerst gar nicht bemerkt. Ich hatte nach unten auf den Weg geschaut und wusste nicht, dass irgendwas los war, bis Sophie an meinem Ärmel zupfte: »Schau mal«, sagte sie atemlos, während ihre Augen dem Raubvogel folgten, der in anmutigen Kreisen über unseren Köpfen schwebte. Mein Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger, kehrte dann aber wieder zu Sophie zurück, zu dem hingerissenen, ehrfurchtsvollen Staunen, mit dem sie auf die Schönheit des Falken, des Herbsttages und des Sees reagierte. Ich erinnere mich, dass ich wünschte, auch zu solchen intensiven Gefühlen fähig zu sein.
    Sophie war als Kind sexuell missbraucht worden. Der Feind war der eigene Vater: Er betete sie an, bis sie in die Pubertät kam, und stieß sie dann brutal zurück, als sie anfing, frauliche Züge zu entwickeln. Sie hatte keine Geschwister – ihre Eltern waren treue Anhänger der chinesischen Ein-Kind-Politik. Es gab keine Brüder oder Schwestern, die Sophies Erfahrungen bezeugen, die sie beschützen oder ihre immer verzerrteren Wahrnehmungen von Liebe, Familie und Wahrheit korrigieren konnten.
    Ihre Mutter hätte es natürlich tun müssen. Doch die Mutter stammte aus einer traditionellen Familie. Ihr fehlte die innere Kraft, die erforderlich gewesen wäre, um sich den Dogmen zu widersetzen. Sie stellte ihren Ehemann nicht in Frage, weil man den Ehemann nicht in Frage stellen durfte. Also schlich sie auf Zehenspitzen über den Flur, machte die Schlafzimmertür hinter sich zu, setzte sich aufs Ehebett und wartete – worauf? Sühne? Vergebung? Erlösung? Ich stelle mir vor, wie sie dort sitzt, starr geradeaus schauend, absichtlich blind, taub und ahnungslos, weil sie das Wissen nicht ertragen hätte. Ich stelle mir ihr gestepptes Kleid vor, ihr ausdrucksloses Gesicht. Ich kann ihr nicht verzeihen. Ich kann

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