Callgirl
meine Wohnung, meine Katze, meine Möbel, mein Leben verlieren. Ich wollte nicht meinen Ruf bei Peach verlieren. Und ganz gewiss wollte ich mich nicht länger von einer Freundin bestehlen lassen.
Natürlich hörte es nicht auf, nur weil ich es wollte.
Sophie wurde immer bedürftiger. Ich schätze, dass ihre Freunde
und Bekannten sie nach und nach fallen ließen. Sie fing an, mich ständig anzurufen, zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten. Sie bat mich, ihr Geld zu leihen, sie mit dem Auto irgendwohin zu fahren oder mit ihr zusammen einen Kunden zu besuchen, damit sie sich etwas Crack besorgen konnte. Oder sie bat mich, es für sie zu kaufen, sie würde mir das Geld zurückzahlen, versprach sie. Komm schon, Jen, bitte, nur dieses eine Mal. Bitte, ja? Tu es für mich. Bitte tu’s für mich, Jen …
Sie hatte immer eine gute Geschichte – nein, eine brillante Geschichte. Es würde nur dieses eine Mal sein. Sie hatte konkrete Pläne gemacht. Sie wollte wieder zur Schule gehen. Sie dachte daran, eine Therapie zu machen. Doch bis es so weit war, müsse ich ihr helfen, wenn ich ihre Freundin sei. Ist es dir egal, wenn ich leide, Jen? Bin ich dir egal?
Oder sie nannte absolut einleuchtende Gründe dafür, weshalb sie meine Hilfe brauchte. Es ging nicht um Drogen, sie hatte schon seit Tagen nichts mehr genommen, schon fast eine Woche nicht mehr. War das nicht wundervoll? Nein, es ging nicht um Drogen, in der Hinsicht hatte ich völlig Recht gehabt, sie wollte nur heute Nacht nicht allein sein. Nur heute Nacht. Jen, bitte, komm doch zu mir, lass mich nicht allein.
Sie klang so vernünftig. Alle Süchtigen entwickeln eine außergewöhnliche Eloquenz. Sie klingen absolut überzeugend. Sie texten dich voll, bis du ihnen alles glaubst. Ich musste dabei immer (und muss es heute noch) an einen Song von Rod Stewart denken: »Even though you lied, straight-faced, while I cried / Still, I’d look to find a reason to believe.« Mein Gott, was habe ich gesucht, um einen solchen Grund zu finden und Sophie glauben zu können! Und das wusste sie.
Sie hatte für alles eine Erklärung. Sie war pleite, sie hatte seit drei Tagen nichts gegessen. Also brachte ich ihr etwas zu essen und wurde mit einem spektakulären Tobsuchtsanfall für meine Mühen belohnt.
Die neuen Möbel waren da. Die Matratze auf dem Bett war bereits mit Brandlöchern von ihren Zigaretten, von ihren Crackpfeifen übersät. Es war sowieso ein Wunder, dass sie die Wohnung bei ihrer ganzen Crackkocherei noch nicht vollständig abgefackelt hatte.
Ich entdeckte eine Anzeige für einen günstigen Fernseher samt Videorekorder und kaufte das Gerät für Sophie. Ich brachte es zusammen mit einer Tasche voller Videofilme und einer Tüte mit Lebensmitteln nach Natick. Ab und zu gab ich ihren hartnäckigen Bitten nach und fuhr sie irgendwohin, normalerweise nach Lynn oder Revere. Sie machte inzwischen relativ weite Wege, um Koks zu kaufen. Die örtlichen Dealer hatte sie alle schon einmal geleimt: Zu jenem Zeitpunkt gab es vermutlich nicht einen einzigen mehr, dem sie kein Geld schuldete. Anders als ich waren sie an den Umgang mit Süchtigen gewöhnt; sie konnten Nein sagen. Es war Pech für Sophie, dass nicht alle bereit waren, den Stoff gegen Naturalien zu tauschen.
Die Wahrheit war, dass ich ihr beim Sterben zusah und dass sie mich bat, ihr dabei zu helfen. In der Nacht, in der ich das endlich begriff, hörte ich auf. Es war eine der schwersten Entscheidungen, die ich je in meinem Leben getroffen habe.
Sie hatte mir keine Ruhe gelassen, mich alle drei Minuten angerufen, um mich um eine Autofahrt zu bitten, für die sie mich bezahlen wollte, wenn ich denn so herzlos sein und es nicht aus Freundschaft tun wollte. Ihre Worte. Also hatte ich einmal mehr nachgegeben und sie in Natick aufgelesen, von wo aus wir uns auf den Weg nach Lynn machten.
Es war nicht unbedingt die beste Zeit für einen Ausflug. Es war elf Uhr nachts, wir hatten uns hoffnungslos verfahren, und es stellte sich heraus, dass Sophie keine konkrete Vorstellung von Weg und Ziel hatte. Sie behauptete nur vage, dass sie das Haus wieder erkennen würde, wenn sie es vor sich sähe, weil sie in der Nacht zuvor da gewesen war.
Ich für meinen Teil war in der Nacht zuvor bis fast vier Uhr morgens bei einem Kunden gewesen, hatte dann um halb neun in der Früh einen Kurs unterrichtet und war überhaupt nicht in der Stimmung für solchen Blödsinn. Ich gab Sophie mein Handy. »Ruf diese Leute an«, sagte ich
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