Callgirl
verärgert, »und lass dir eine Wegbeschreibung geben.« Mein Geduldsfaden war kurz vorm Zerreißen.
Sie schaute mich verständnislos an. »Ich weiß nicht, wie sie heißen. Aber ich kenne das Haus. Lass uns noch ein paar Straßen abklappern.«
Ich versuchte, bis zehn zu zählen und ruhig zu atmen. Soweit ich es beurteilen konnte, hätte sie an jeder der letzten sechs Straßenecken etwas kaufen können, wenn ich zugestimmt hätte. Zu behaupten, dass wir nicht gerade durch die beste Gegend der Stadt fuhren, wäre eine exorbitante Übertreibung gewesen. »Sophie, du hast gesagt, dass diese Sache nicht länger als eine halbe Stunde dauert.«
»Das habe ich ja auch gedacht«, schmollte sie. »Jen, tu’s einfach, ja? Jetzt sind wir doch sowieso schon hier.«
Aber nicht mehr lange, dachte ich grimmig. Ich gab ihr weitere zehn Minuten. Dann streikte ich. »Sophie, das wird doch nie was. Ich fahr jetzt wieder nach Hause.«
»Wie kannst du mir das antun?«, klagte sie empört.
»Wie konntest du mir das antun?«, konterte ich. »Sophie, du nutzt mich aus, und ich bin es leid. Soll ich dich hier absetzen oder willst du mit nach Hause kommen?«
»Wenn wir nur noch diese eine Straße abfahren könnten, ich glaube, das kommt mir bekannt vor …«
Ich riss das Steuer herum und brachte die Reifen auf eine Weise zum Quietschen, wie es mir seither nie wieder gelungen ist. Ich fuhr sie nach Hause. Ich sagte kein Wort, nicht als sie weinte, nicht als sie bettelte. Ich wartete in eisigem Schweigen, bis sie ausgestiegen war. Ich fuhr nach Hause und ging nicht ans Telefon, das die ganze Nacht hindurch klingelte.
Außerdem hatte sie es verdammt noch mal schon wieder geschafft, meine Brieftasche auszuräumen.
Ich konnte das nicht länger mitmachen. Ich konnte sie nicht weiter lieben und gleichzeitig hassen.
Ich fing an zu sagen: »Tut mir Leid, aber ich kann nicht mit dir sprechen«, wenn sie mich anrief. Ich bezahlte weiterhin die Raten für ihre Möbel und fühlte mich hin und her gerissen zwischen dem Ärger darüber und dem tiefen Kummer, dass es nichts genützt hatte.
Aber sogar zu diesem Zeitpunkt war ein ganz kleiner Teil von mir (der Peter-Pan-Teil, den wir alle in uns haben, der sich weigert, erwachsen zu werden, und keine Verantwortung übernehmen will) eifersüchtig auf Sophie, weil sie sich mit heruntergelassenen Jalousien in ihrer Wohnung einschloss, die Realität ignorierte, dieses süße intensive Vergessen aus der Crackpfeife saugte und nichts mehr fühlte.
Eine der Frauen bei Peach erzählte mir mal, sie habe Kokain probiert, und es habe ihr nicht besonders gefallen. »Es stumpft dich ab«, erklärte sie, »in jeder Hinsicht. Ich war überrascht, dass es dein Herz genauso kaputt macht wie deinen Verstand. Es nimmt dir die Fähigkeit zu fühlen. Dir ist einfach alles egal. Du empfindest nichts mehr. Ich will niemals aufhören zu fühlen.«
Ja. Aber sie war jung und gesund, und ihr ganzes Leben lag noch vor ihr, voller Geheimnisse, Abenteuer und Verheißungen. Da sagt es sich leicht, dass man intensive Gefühle will.
Trotzdem hatte sie Recht, was das Kokain betraf.
Ich hörte auf, mit Sophie zu reden, und schließlich – nach einer scheinbar endlosen Zeit – hörte sie auf, mit mir zu reden. Das Letzte, was ich hörte, bevor ich aus dem Geschäft ausstieg, war, dass sie in den Eingängen von Wohnhäusern unten in Fenway herumlungerte und Blowjobs für ein oder zwei Kugeln Crack anbot.
Ich muss immer noch weinen, wenn ich diese Ereignisse schildere,
obwohl all das Jahre zurückliegt. Meine Kehle brennt, mein Magen zieht sich zusammen. Ich fühle es noch immer. Es ist, als seien Sophie und ich Überlebende eines Schiffsunglücks gewesen, und ich hätte vergeblich versucht, sie über Wasser zu halten. Ich frage mich manchmal, ob es nicht doch noch etwas gegeben hätte, was sie länger vor dem Untergang bewahrt hätte, was ihr geholfen hätte, länger durchzuhalten und an meiner Seite auf Rettung zu warten.
Natürlich hatte Andy Recht gehabt, als er sagte, sie wolle nicht allein untergehen. Wenn es ihr nur möglich gewesen wäre, hätte sie mich mit in die Tiefe gerissen. Nicht weil sie mich hasste, sondern weil ich ihr gleichgültig war. Ich war für sie nur noch Mittel zum Zweck. Sie hatte die Fähigkeit zur Anteilnahme verloren. Ihr einziges Interesse galt der Droge.
Ich bin nicht sicher, ob ich stärker bin als Sophie. Ich bin nicht besser und nicht klüger. Der einzige Unterschied war vielleicht, dass
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