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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Angell
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deshalb selbst eine werde oder so.«
    Trotzdem ging das, was sie sagte, vielleicht in die richtige Richtung. Immerhin tragen zum Beispiel die Gegner des sexuellen Aufklärungsunterrichts in der Schule genau dieses bizarre Argument vor – nämlich dass das Wissen um eine Sache irgendwie dazu führt, dass die Person diese Sache unbedingt tun will. Manche Leute fürchten ja auch, dass schwule Männer ständig auf der Suche nach jungen Knaben sind, die sie »bekehren« können, als ob das Leben als Schwuler so absolut unwiderstehlich sei, dass andere davor beschützt werden müssten.
    Ich atmete tief durch. »Ihre Mutter muss sich keine Sorgen machen und Sie auch nicht«, erklärte ich mit Bestimmtheit. »Dieser Kurs wird ungefähr so sexy sein wie ein Kurs in Trigonometrie oder über Windgeschwindigkeit. Wir beschäftigen uns wissenschaftlich und aus einer wissenschaftlichen Perspektive mit einem soziologischen Phänomen.« Das Mädchen sah immer noch unbehaglich aus, also fuhr ich fort: »Befürchtet Ihre Mutter vielleicht, dass Sie nach diesem Kurs andere Ansichten haben könnten als sie?«
    Nicken. »Ich glaube, das ist es«, meinte sie unglücklich.
    »Ist dies Ihr erstes Semester am College?«, fragte ich so taktvoll wie möglich. Ich kannte die Antwort bereits.
    »Ja.«
    Ich hakte mich bei ihr ein und leitete sie zu einer Bank. Wir setzten uns. »Für Ihre Mutter ist dies eine der schwersten Zeiten im Leben«, sagte ich ihr. »Es ist nichts Neues. Es fing an, als Sie zwei wurden und entdeckten, dass Sie und Ihre Mutter zwei getrennte Wesen sind. Und es setzte sich fort, als Sie auf die Highschool
gingen und abends länger wegblieben, als Sie sich mit Jungen verabredeten, die Ihrer Mutter nicht gefielen, oder als Sie Dinge sagten, um Ihre Mutter zu schockieren oder zu provozieren.« Ich hatte zwar keine Ahnung, wie ihre Jugend verlaufen war, aber ich unterstellte einfach auf gut Glück, dass sie sich nicht allzu sehr von meiner eigenen unterschied.
    Das Mädchen schien mir jedenfalls folgen zu können. »Sie meinen, dies ist so ähnlich, als würde ich mich mit einem Jungen treffen, den sie nicht mag?«
    Ich zuckte die Achseln. »In gewisser Weise. Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder sich eine eigene Meinung bilden und unabhängig werden. Oder zumindest sagen sie, dass sie das möchten. Was die meisten Eltern sich nicht klar machen, ist, dass die Kinder dann möglicherweise auch ganz andere Entscheidungen treffen als sie. Oder Entscheidungen, die sie für grundfalsch halten. Und das gefällt niemandem.« Ich zögerte. »Wissen Sie, ich will keine eigenen Kinder, aber manchmal denke ich trotzdem darüber nach, und wissen Sie, was meine größte Angst wäre?«
    »Nein, was?«
    »Dass ich mir alle Mühe gebe, damit sie die richtigen Wertvorstellungen entwickeln – das heißt, meine Wertvorstellungen – und sie trotz allem, was ich ihnen beigebracht habe, schließlich bei den Republikanern landen!«
    Das entlockte ihr, wie beabsichtigt, ein Lachen. »Es geht also nicht um den Kurs über Prostitution«, fasste sie zusammen.
    »Nein, ich glaube nicht, dass das der Knackpunkt ist.« Ich stand auf. »Das Beste ist, Sie lassen Ihre Mutter an Ihren Gedanken teilhaben, auch wenn Sie noch gar nicht genau wissen, was Sie selbst denken oder glauben. Auf diese Weise kann Ihre Mutter sich allmählich an die zu erwartenden Veränderungen gewöhnen und erkennen, dass die neuen Ansichten ihrer Tochter nicht das Ergebnis einer Gehirnwäsche sind, sondern durch gründliches Nachdenken entstehen. Dafür sollte sie stolz auf ihre Tochter sein.«
Ich sah ihr nach, als sie ging, doch anstatt ihr zu folgen, setzte ich mich wieder auf die Steinbank. Ich fand es wirklich merkwürdig, dass mir der Gedanke, den ich jetzt plötzlich hatte, noch nicht früher gekommen war, so viel wie ich schon über den Widerspruch zwischen meinen beiden Tätigkeiten nachgegrübelt hatte.
    Wenn die Mutter dieses Mädchens sich Sorgen machte, weil ihre Tochter an einem Seminar über Prostitution teilnahm, was würde sie wohl empfinden, wenn sie wüsste, dass die Kursleiterin tatsächlich als Prostituierte arbeitete?
    Theorien sind etwas Schönes, Wissen ist etwas Gutes und Verständnis etwas Löbliches. Und solange wir weiterhin die Gegenstände unserer Forschung aus der Distanz betrachten, so als gehörten sie zu irgendeinem weit entfernten Eingeborenenstamm, der nichts mit uns gemein hat, sind wir alle sicher und geschützt. Die Wissenschaft kann

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