Callgirl
weiterhin ihre Urteile formen, verkünden und diktieren.
Ich fing an, große Sympathien für die Mitglieder dieses Stammes zu entwickeln. Ich wusste, wie ihnen zu Mute war.
Kapitel 12
Wahrscheinlich habe ich an früherer Stelle bereits etwas Positives über die Scharen von Studienanfängern geschrieben, die jeden Herbst in Boston einfallen, und erwähnt, dass sie in gewisser Weise belebend wirken und ein fester Bestandteil des Neuanfangs sind, den wir hier jeden Herbst feiern.
Mehr Nettes habe ich über Studienanfänger als Gruppe leider nicht zu sagen.
Ich weiß, das klingt schrecklich sauertöpfisch, und ich habe eigentlich noch nicht das passende Alter, um so griesgrämig sein zu dürfen, aber es stimmt wirklich. Es geht nicht nur darum, dass man in einer stickigen, voll gestopften U-Bahn auf Horden pickliger junger Leute stößt, die sich absolut sicher sind, dass ihre Erkenntnisse, ihre Wahrnehmungen und ihre Verhaltensweisen wahr, richtig und überhaupt das einzig Entscheidende sind. Was mich ärgert, ist die Tatsache, dass sie sich gezwungen fühlen, diese Haltung auch mit in den Unterricht zu bringen.
Ich stellte eine Hausaufgabe in meinem Kurs über Prostitution. Ich gab das Format vor, in dem die Arbeiten abgegeben werden sollten, hauptsächlich um mich selbst vor den komplizierten, weitschweifigen Streitschriften zu schützen, die ohne solche Richtlinien häufig entstehen. Die Aufsätze wurden pünktlich abgegeben, doch zwei Kursteilnehmer hatten die Formatvorgabe vollkommen ignoriert. Einer hatte anstatt der angeforderten wissenschaftlichen und mit Anmerkungen versehenen Arbeit ein einseitiges Gedicht zu dem Thema verfasst. Ich seufzte und sah
der unvermeidlichen Konfrontation, die mir in diesem Fall bevorstand, nicht gerade freudig entgegen. Falls irgendjemand Interesse an meiner Meinung über die wachsende Verdummung im amerikanischen Schulwesen hat, bin ich mehr als bereit, sie beizusteuern.
Ich gab die unakzeptablen Arbeiten unkorrigiert an die beiden Kursteilnehmer (beides Studienanfänger) zurück und bat sie, die Arbeit noch einmal zu schreiben und sich dabei an die vorgegebenen Richtlinien zu halten. »Ich werde noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen«, sagte ich, »und Sie diesmal noch nicht mit einer schlechten Note bestrafen. Vielleicht haben Sie die Anleitung ja nicht verstanden. Machen Sie es noch mal, und ich werde Ihre Arbeiten so bewerten, als wäre es der erste Versuch.«
Statt dankbar zu sein für diese äußerst großzügige Auslegung der Unzulänglichkeiten in ihren Arbeiten, reagierten beide mit Empörung auf meinen Vorschlag. Mit lautstarker Empörung.
»Ich kann nicht glauben, dass ein so engstirniger Mensch an einem so genannten Bildungszentrum unterrichtet«, knurrte Jesse und sprang mir sozusagen direkt an die Gurgel. Das war der Dichter. Wahrscheinlich übte er für seinen nächsten Abstecher in eine Poesie des Zorns. Es war Pech für ihn, dass schon andere Leute diese Idee gehabt hatten, und zwar Leute mit erheblich größerem Talent, als er derzeit an den Tag legte.
»Ich bitte Sie lediglich …«, setzte ich an.
»Man kann es also nur so machen, wie Sie es für richtig halten, oder was?«, konterte Bob und schaffte es, mich zu unterbrechen und sich gleichzeitig als Rüpel zu profilieren. »So als hätten wir überhaupt keine eigene Meinung. So als könnten wir gar nichts Eigenes beitragen. Das College ist nicht dazu da, dass wir lernen, was Sie für die richtige Methode halten.«
Ich gemahnte mich daran, dass es meiner Karriere schaden könnte, ihn umzubringen. »Doch, genau dazu ist das College da«, sagte ich sanft. »Woher wissen Sie, dass eine Methode
schlecht ist, wenn Sie sie gar nicht ausprobiert haben?« Ich zögerte, überlegte, ob ich hier mein argumentatives Kraut gegen etwas einsetzte, gegen das kein Kraut gewachsen war, machte dann aber hastig weiter, bevor sie mich unterbrechen konnten. »Wissen Sie was, ich werde Ihnen eine Sonderaufgabe geben: Untersuchen Sie das von mir gewünschte Format, nehmen Sie es auseinander. Intellektuell, mit vernünftigen Argumenten, nicht weil Sie wütend auf mich sind. Erklären Sie mir, was falsch daran ist, und warum Sie sich nicht daran halten wollen.«
»Ach so, wir sollen also Ihre Arbeit erledigen, oder wie sehe ich das?«
Irgendetwas in dieser Art passiert mit den Studienanfängern jedes Jahr im Herbst. Einige gehörten in ihren Highschools zu den Besten ihrer Klasse, und sie sind daran gewöhnt, dass die
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