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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Angell
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erarbeitet sich ein Thema, mit dem man sich in Zeitschriftenbeiträgen und Vorträgen befassen kann, die unerlässlich für Fortschritte im eigenen Fachgebiet sind. Aber das alles macht einen noch nicht zum Lehrer. Das Thema meiner Dissertation lautete The Role of Immediate Family Members in Rites of Passage. Nicht unbedingt ein Thema, das jeden vom Hocker haut. Auch für witzige Unterhaltungen auf Cocktailpartys ist es eher ungeeignet. Obwohl man also möglicherweise zum Experten für einen verschwindend kleinen Bereich des eigenen Fachgebietes geworden ist, wird nie von einem verlangt, darin zu unterrichten. Stattdessen unterrichtet man Kurse, die man selbst vor so langer Zeit besucht hat, dass man sich kaum an sie erinnern kann: »Allgemeine Anthropologie«, »Einführung in die Anthropologie«, »Der Ursprung des Menschen«.
    Falls ich zu altruistisch klinge, lassen Sie mich schnell hinzufügen, dass mir das Unterrichten auch deshalb gefällt, weil es in mir gute Gefühle weckt. Der Kontakt mit den Studenten, die Möglichkeit, bleibenden Einfluss auszuüben, und sei er noch
so winzig, ihnen zu helfen, sich etwas Wichtiges zu erschließen … das fühlt sich an, als könne man fliegen! Es gibt nichts Besseres.
    Nicht mal Freebase. Nachdem ich die Crackpfeife einmal in die Hand genommen und ihr Zutritt zu meinem Leben gewährt hatte, musste ich merkwürdigerweise immer alles andere damit vergleichen. Aber die Crackeuphorie ist anstrengend, unsicher, manchmal sogar Furcht erregend. Die Euphorie des Unterrichtens ist anders. Sie gibt Kraft und Hoffnung. Sie ist Geben und Nehmen gleichermaßen.
     
    Ich hatte um vier Uhr nachmittags eine Verabredung mit einem von Peachs Klienten, so dass ich gerade noch Zeit hatte, nach Hause zu fahren, mich zu duschen und umzuziehen – er stand auf Jeans und Freizeitlook. Er wohnte in Needham, einer südlichen Vorstadt von Boston mit fast ausschließlich weißer Bevölkerung, die sich immer noch einzureden versucht, dass amerikanische Flaggen auf den Straßen und vor den Delikatessgeschäften ausreichen werden, um sich alle Außenseiter für immer vom Leib zu halten. Als Außenseiter gelten natürlich alle, die nicht weiß und vorzugsweise protestantisch sind und nicht mindestens 80 000 Dollar im Jahr verdienen. Niemand hat ihnen gesagt, dass Norman Rockwell überholt ist und vielleicht nicht mal in seiner eigenen Zeit authentisch war.
    Ich verabscheue Needham, aber den Kunden fand ich nett. Ihm gehörte eine der Boutiquen an der Great Plain Avenue. Am späten Nachmittag schloss er den Laden, um sich von einem Callgirl besuchen zu lassen. Dort trieben wir es dann auch, auf einem Sofa im winzigen Hinterzimmer des Ladens.
    Wir haben viele Kunden aus Gegenden wie Needham, Kunden, die das Spiel vom erfolgreichen Leben in der Vorstadt spielen, aber das Verlogene daran erkennen und nicht wissen, was sie mit dieser unglücklichen Einsicht anfangen sollen. Da sie nun
mal Männer sind, fallen ihnen natürlich zuerst sexuelle Fluchtwege ein. Nachdem sie in der Woche hart gearbeitet haben, um in ihren auserwählten Berufen voranzukommen, spielen sie am Wochenende »Heile Welt« mit der Familie. Sie besuchen die unzähligen sportlichen Wettbewerbe und sonstigen Veranstaltungen ihrer Kinder und lassen sich von ihren Ehefrauen auf Elternabende, Cocktailpartys und kirchliche Wohltätigkeitsbasare schleifen. Ihre Tragödie ist, dass sie klug genug sind, um zu erkennen, dass etwas an dem Bild nicht stimmt, aber zu ängstlich, um etwas dagegen zu unternehmen.
    Außer ein Callgirl zu bestellen.
    Ich finde es ziemlich erschreckend, wenn die Verabredung mit einem Callgirl (wann immer man 200 Dollar auf die Seite legen kann, ohne dass die Ehefrau es merkt) die mutigste und bedeutungsvollste Tat im Leben ist. Aber für die Zufriedenheit dieser Männer schien es auszureichen. Na ja, das und die beiden Martinis, mit denen sie sich allabendlich stärkten, um die vorbereiteten abendlichen Veranstaltungen und ihr vorherbestimmtes Leben ertragen zu können.
    Carl passte perfekt in dieses Bild. Manchmal tat er mir Leid. Manchmal fand ich ihn jämmerlich. Aber nichts, nicht mal Carl und sein leeres Leben, hätten mich an diesem Tag deprimieren können.
    Ich sprudelte bereits über, als ich in den Laden kam und so tat, als wäre ich eine Kundin. Das war das Prozedere. Ich befingerte kostspielige Anstecknadeln und scheußliche kleine Nippsachen, bis Carl beschloss, dass er gefahrlos abschließen konnte und wir ins

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